Buchbesprechung/Rezension:

Roberto Bolaño: 2666

verfasst am 25.05.2010 | 2 Kommentare

AutorIn & Genre: Bolaño, Roberto, Romane
Buchbesprechung verfasst von:

Die Suche nach Benno von Archimboldi, dem verschollenen deutschen Schriftsteller, dessen Werk sie sich verschrieben haben, führt vier europäische Literaturwissenschaftler nach Mexiko, ins Grenzgebiet zur USA. Es ist jene Region in der seit Jahren unzählige Frau ermordet wurden.

Diese vier sind nur das Vehikel, das uns nach Mexiko transportiert, dort angekommen ist ihre Aufgabe erfüllt und andere  übernehmen ihre Funktion als Mittelpunkt der Erzählung. Obwohl die vier bald aus dem Zentrum der Erzählung rücken, kennen wir sie nach dieser kurzen Zeit bereits genau, ihre Gedanken, Wünsche, Leidenschaften und das, was sie miteinander verbindet. Alles liegt vor uns, das gesamte Spektrum dessen, was Menschen in ihrer geistigen um emotionalen Welt ausmacht.

Bolaño hatte ursprünglich verfügt, daß die fünf Kapitel von 2666 als fünf eigenständige Bücher erscheinen sollten. Sein Gedanke dabei war, daß er damit seinen Erben wohl ein besseres Einkommen sichern könne. Der Roman, der nach seinem Tod erschien, wurde dann aber in einem großen Werk veröffentlicht, eine Entscheidung, die Erben und Verlag gemeinsam trafen.

Die 5 Bücher, oder Kapitel, je nachdem wie man es betrachten will, sind tatsächlich eigene, selbstständige Werke, die man auch jeweils einzeln, ohne die anderen zu kennen, lesen kann. Doch erst in der Gesamtheit entsteht dieses Vermächtnis Bolaños: 2666.

Im 1. Buch/Kapitel geht es um die zuvor beschriebenen Kritiker. Vom Beginn ihrer Freundschaft zueinander, über ihre Versuche, das Geheimnis um Archimboldi zu entschlüsseln, die Spurensuche, dann ihre Liebesverhältnisse und schließlich der Hinweis, der drei von Ihnen nach Mexiko fliegen lässt in der Hoffnung, dort endlich mehr heraus zu finden.

Das 2. Buch/Kapitel handelt von Amalfitano, dem chilenischen Professor, den es aus Spanien gemeinsam mit seiner Tochter Rosa nach  Santa Teresa verschlagen hat, wo er mit den vier Kritikern aus Europa zusammen trifft.  Die ungeklärten Morde an den Frauen lassen ihn auch um seine Tochter bangen, er verstrickt sich  in einen unerklärlichen Wirbel aus Gedanken und Vorstellungen, in eine Art Vision über  die grausamen Verbrechen, die sich im Grenzland ereignen. Ob diese Visionen mit den Verbrechen in Verbindung stehen bleibt allerdings unklar.

Der Journalist Fate reist im 3. Buch/Kapitel im Auftrag seiner New Yorker Zeitung nach Santa Teresa um über einen Boxkampf eine Story zu schreiben. Über den Boxkampf selbst findet er nur wenig zu berichten, doch das unerwartete Treffen mit einer mexikanischen Reporterin und die Begegnung mit Rosa Amalfitano schaffen auch für ihn eine Verbindung zur Mordserie.

Dann das 4. Buch/Kapitel, in dem die unzähligen Morde geschildert werden. Die vielen Namen und Namenlosen, die vielen Geschichten hinter den Namen der Opfer, oft auch nur die Geschichten, denn die Namen vielfach unbekannt. Dazwischen die Polizisten, die mit immer neuen Opfern, allesamt Frauen, meistens junge Frauen, oft noch Mädchen, konfrontiert werden, die aber zwischen Einöde, Grenzland und Slums nichts finden können, um die schreckliche Serie zu beenden. Oder nichts finden wollen, weil Korruption, Gleichgültigkeit und vielleicht auch ihre eigene Verwicklung in die Verbrechen die Aufklärung verhindern. Eine chronologische Schilderung der Gewalt, Monat für Monat, Jahr für Jahr.

Archimboldi selbst steht im Mittelpunkt des 5. Buches/Kapitels.  Nach Ende des 1. Weltkrieges wird Hans Reiter geboren, erlebt die Deutsche Republik und erlebt wie daraus Nazi-Deutschland wird. Er erlebt und überlebt den 2. Weltkrieg als Soldat. Nach Kriegsende kommt er kommt er Kriegsgefangenschaft aus der er entflieht und es verschlägt ihn nach Köln. In Köln, er beendet gerade seinen ersten Roman, wird er Benno von Achimboldi.

Keines dieser fünf Bücher/Kapitel beantwortet alle Fragen, die gestellt wurden, schafft Klarheit zu Allem. Es bleibt Raum für eigene Schlüsse, das Buch lässt es offen, selbst weiter zu denken. Bolaño konnte sein Werk nicht zur Gänze fertig stellen. Was gewollt war ungeklärt zu bleiben und was durch den Tod des Schriftstellers nicht vollendet werden konnte, auch darin gibt es keine Klarheit.

Es gibt viele Geschichten in diesem Buch, doch die eigentliche Kraft findet sich in den einzelnen Sätzen, aus denen diese Geschichten entstehen. Viele lange Sätze, deren Anfang man am Ende nicht mehr genau kennt, den man aber kennen will und den Anfang wieder sucht um nur nichts zu übersehen oder zu überlesen. Sätze, die jeder für sich schon wieder eigene Kapitel sind.

Oft findet alles in einem einzigen dieser langen Sätze statt: das, was gerade geschieht, das, was sich diejenigen, denen es geschieht, dabei denken und fühlen, das, was diejenigen, denen es geschieht, an diesen Punkt gebracht hat und das, was sie glauben, wo es sie von hier aus hinführen wird. Viele Sätze, die jeder für sich wieder eigene kurze Erzählungen sind – alleine schon deshalb, weil man Sätze findet, bei denen man öfters umblättern muß. Es dauert einige Zeit, sich daran zu gewöhnen, aber bald ist der Rhythmus, den das Lesen erfordert, gefunden.

All das macht die Lektüre nicht einfach, denn einfach nur dem Faden der Handlung folgen zu wollen, das bringt zu wenig, da sollte man gleich überhaupt nicht anfangen. Man muß jeden Satz nicht nur gelesen haben sondern auch verstanden (was, siehe oben, oft nicht einfach ist), denn sonst macht es keinen Sinn den darauf folgenden zu lesen.

So ist der Beginn des Lesens von 2666  gleichzeitig auch der Beginn eines Lese-Projektes, mit dem man sich über mehrere Wochen beschäftigen wird – oder nach ein paar Tagen aufhört. Das wird schon nach den ersten Seiten klar. Ist die Entscheidung erst einmal gefallen sich auf das Buch einzulassen, dann wird 2666 zu einem täglichen literarischen Begleiter:  gespannt warte ich auf das Kommende, lese 20,30, 40, selten mehr als 50 Seiten, lege das Buch wieder weg, mache am nächsten oder übernächsten Tag weiter.

Lesen, Buch beiseite legen, am nächsten Tag wieder ein paar Seiten, vielleicht den letzten Absatz (es können aber auch gleich ein paar Seiten sein) nochmals überfliegen um sicher zu sein, nichts übersehen zu haben und dann weiter. So erging es mir und am Ende hat es mehrere Monate gedauert um alles gelesen, verstanden und vor allem auch miterlebt zu haben. Dazwischen immer wieder Pausen und andere Bücher, aber dann immer  wieder zurück. Obwohl es also sehr lange gedauert hat, brachte es das konzentrierte Lesen mit sich, daß mir alles im Gedächtnis blieb.

Was neben der Geschichte vor allem im Gedächtnis bleibt, das ist die Phantasie von Bolaño, die schier unerschöpflich zu sein scheint. Aus jeder kleinen Regung kann er ein ganzes Universum an Eindrücken, Gefühlen und Visionen schaffen und bringt alles in unvergleichlicher Art und Weise zu Papier. Kongenial zu Bolaños Meisterschaft ist die Arbeit von Christian Hansen, der 2666 aus dem Spanischen übersetzt hat.

Roberto Bolaño wurde in Chile geboren, verbrachte einen großen Teil seiner Kindheit in Mexiko, und gelangte schlussendlich nach weiteren Zwischenstationen in El Salvado, Chile und wieder Mexiko im Jahr 1977 nach Spanien. Schon schwer gezeichnet von einer Lebererkrankung machte er es sich zur Aufgabe, dem Roman 2666 um jeden Preis noch zu vollenden. Angeblich verzichtete er für dieses Ziel sogar auf eine lebensrettenden Operation und starb im Jahr 2003 im Alter von nur 50 Jahren. Womit sich der Kreis schließt, wenn der Autor selbst zu einem nicht mehr greifbaren Mythos wird, dessen Leben sich mit der Lebensgeschichte seiner  Romanfiguren kreuzt.

Mehr als ein Buch in dieser Art ist pro Jahr nur schwer zu verdauen, doch sich dieser Herausforderung zu stellen bringt am Ende ein unvergleichliches Leseerlebnis und hinterlässt einen tiefen, bleibenden Eindruck. 2666 ist für mich ein ganz eigener Kosmos der Literatur, mit nichts vergleichbar, das ich bisher gelesen habe.

Links mit weiterführenden Informationen:

www.roberto-bolano.de
Der reale Hintergrund: die ungeklärten Frauenmorde von Ciudad Juárez
Mujeres de Juarez

PS: Die lange Zeit der Beschäftigung mit diesem Buch weckte in mir das Bedürfnis, immer mehr Hintergründe zu Bolaño und mehr über die Hintergrunde dieses Romans zu erfahren. Die Recherche im Internet führt zu einer überwältigenden Zahl von Quellen (kann man Spanisch, dann noch viel mehr). Die wenigen Links, die hier angeführt sind also nur ein ganz kleiner Ausschnitt.

PPS: Es wäre vermessen, eine Rezension über dieses Buch schreiben zu wollen. Abgesehen davon, daß eine solche Rezension wahrscheinlich länger ausfallen würde als die mehr als 1.000 Seiten des Buches. Es ist dies also der  “Versuch einer Zusammenfassung”.




RSS-Feed für Kommentare zu diesem Beitrag 2 Kommentare


  • Kommentar von  Johanna Miller am 04.04.2011 um 11:02 Uhr

    Hier auch eine schöne Kritik dieses schwierigen, sperrigen Meisterwerkes:

    http://karinkoller.wordpress.com/2011/04/01/roberto-bolano-2666/

  • Kommentar von  Herbert Fraunhoffer am 31.05.2010 um 11:20 Uhr

    Eine wichtige Seite zu Bolaño und seinem Werk (sehr ausführlich auch 2666) ist:
    www.wilde-leser.de


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