Buchbesprechung/Rezension:

Roberto Bolaño : Das Dritte Reich

verfasst am 20.09.2011 | einen Kommentar hinterlassen

AutorIn & Genre: Bolaño, Roberto, Romane
Buchbesprechung verfasst von:
LiteraturBlog Bewertung:

In einer Anmerkung am Ende des Buches schreibt Christian Hansen, der Übersetzer, dass man hier ein Buch in der Hand habe, von dem niemand weiß, ob Bolaño selbst es veröffentlicht wissen wollte. Denn obwohl bereits im Jahr 1989 in einem praktisch druckreifen Manuskript fertig gestellt, hat es Bolaño zu seinen Lebzeiten nicht an seinen Verlag weiter gegeben. Ein Werk aus dem Nachlass, ein Frühwerk erwartet uns, doch ob es in dieser Form, in diesem Inhalt und Umfang den Vorstellungen des Autors entspricht, ob es aus seiner Sicht für die Augen der Öffentlichkeit bestimmt war, das bleibt wohl unbekannt.

Die Idee zum Roman wurde unter anderem aus Bolaños eigener Leidenschaft für Brettspiele geboren. Diese findet sich hier mit seinen Betrachtungen für den Faschismus, die Nazis, über den Krieg, über das dadurch verursachte Leid der Menschen zusammen, Themen, die bei Bolaño immer wieder im Mittelpunkt seiner Romane und Erzählungen stehen.

Aus der Realität

Udo Berger kehrt erstmals nach 10 Jahren an den Ort an der spanischen Costa Brava zurück, mit dem er viele und schöne Erinnerungen an frühere Familienurlaube verbindet. Es ist der erste gemeinsame Urlaub mit seiner Freundin Ingeborg, geplant als Erholung und als Arbeitsurlaub. Dabei werden viele das, was Udo als “Arbeit” bezeichnet viel eher als Freizeit und Vergnügen betrachten: seine gestellte Aufgabe ist es, für das Strategiespiel “Das dritte Reich” eine neue  Strategie zu entwickeln und darüber einen Artikel für ein Fachmagazin zu schreiben.

Tage vergehen, an denen Udo zuerst einmal lernt, sich um seine Freundin zu kümmern, begreift, dass er aktiv daran arbeiten muss, ihre Beziehung in Schwung zu halten, versteht, dass er sich nicht einfach den ganzen Tag an seinen Spieltisch, den er – nicht ohne Schwierigkeiten, muss man sagen –  in seinem Hotel organisieren konnte, im Hotelzimmer setzen kann, wenn sie einen gemeinsamen Urlaub geplant hatten.

Die Fiktion

Später, als Udo im “Verbrannten”, dem Mann mit dem verbrannten Gesicht, einen Partner für das Spiel findet, verlieren sich alle Vorsätze und Vorstellungen, die ihn mit Ingeborg verbinden. Schritt für Schritt zieht ihn das Spiel gegen den undurchschaubaren Gegner aus der Realität in die Scheinwelt des Strategiespieles hinein. Udo spielt “Die Deutschen”, der Verbrannte übernimmt den Part der Alliierten. Der neuerliche Kampf um “Das Dritte Reich” entbrennt in der Phantasie der beiden und wird auf dem Spielbrett ausgetragen.

Ein Kampf um den Sieg beim Spiel wird mit jedem Tag wie zu einem Kampf um den Sieg in der realen Welt. Immer mehr übernimmt das Spiel die Regie über das gesamte Geschehen. Immer verlockender wird es, mit neuen Spielzügen die historische Wirklichkeit zu verändern. Menschen und  Kriegsgerät werden verschoben, einfach von einem Spielfeld ins nächste und Udo begreift zunehmend alles als ganz reale Manöver. 

Wie einfach ist es doch, eine Armee dorthin zu stellen, eine Flotte hier zum Einsatz zu bringen, Gibraltar fällt, London wird bedroht. Hätten damals die deutschen Generäle nur das Wissen und das strategischen Können von Udo gehabt, ein anderer Ausgang des Krieges wäre möglich gewesen.

Langsam wird klar, dass es sich um weitaus mehr handelt, als um die intensive Beschäftigung mit dem Spiel. Vielmehr beginnt das Spiel in unerklärlicher Weise in die reale Welt einzugreifen. Udos Gegner beim Spiel wird zu einer Bedrohung, geheimnisvoll wandelt sich in heimtückisch, Rivalität beim Spiel in wirkliche Feindschaft. Der Verbrannte gewinnt immer mehr Stärke, Udo kann seine anfänglichen Erfolge nicht nützen und gerät in Bedrängnis. Weitaus mehr vielleicht, als er denkt.

Echt Bolaño

Alleine schon die Tagebuchform dieses Buches lässt ein gänzlich neues Bolaño-Lesegefühl entstehen. Wenn man es von ihm gewohnt ist, lange und inhaltsvolle Sätze und seitenlange Absätze zu lesen, dann ist jetzt die Aufteilung in Tages-Kapitel, die jeweils nur wenige Seiten umfassen, eine ganz neue Erfahrung (Ich muss sagen, es erleichtert die Lektüre doch ungemein, man kann bewusst pausieren und findet leicht den Wiedereinstieg). Auch sonst fand ich weit kürzere Gedankengänge und Sätze als in vielen anderen Werken von Bolaño vor – kürzer, dabei aber genauso direkt, klar und wirkungsvoll. 

Die Tagebucheinträge des Udo Berger wirken so, als würde der gerade an seinem Schreibtisch oder auf der Terrasse oder am Spielbrett sitzen, gerade jetzt darüber nachdenken, was er den Tag über getan habe, eben nur noch überlegen, wie er dieses nun formulieren und jenes niederschreiben kann. Es sind Sätze und Eindrücke und Gedankengänge wie aus einem wahren Leben.

Langsam entwickelt sich eine Spannung, die greifbar, fast körperlich wird. Man merkt, dass das Spiel, obwohl davon zu Beginn kaum die Rede ist, sich immer weiter in den Vordergrund drängt, so als ob es als dritte Person mit Ingeborg und Udo (später mit Udo und dem “Verbrannten”) im Hotelzimmer wäre und immer vehementer darauf poche, endlich selbst im Mittelpunkt zu stehen, selbst die Richtung vorzugeben. Es ist das Spiel, das die Spieler zu Spielfiguren seiner (Spiel)Regeln macht, wie Marionetten.

Wie gebannt las ich einen Tag nach dem anderen und wieder einmal konnte ich eines der Bücher von Roberto Bolaño nicht aus der Hand legen, bis die letzte Zeile gelesen war.

Es ist eine beeindruckende Schilderung von Irreführungen, Obsessionen, Träumen. Ein fast übergangsloses Hin und Her zwischen den Kriegsjahren und dem Jetzt in dem sich die Elemente ganz unterschiedlicher Genres zu einem grossartigen Roman zusammen finden.

PS: Die Messlatte, die Basis für Bolaños posthumen Ruhm ist “2666”. “Das Dritte Reich” hätte es aus meiner Sicht ebenfalls mit Leichtigkeit geschafft, den Ruhm des Roberto Bolaño zu begründen. Ich hoffe , dass es noch weiteres aus dem bislang unveröffentlichten Nachlass zu lesen gibt, denn es wäre zu schade, wenn diese Quelle schon endgültig versiegt ist.




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