Buchbesprechung/Rezension:

Manfred Flügge: Stadt ohne Seele
Wien 1938

Stadt ohne Seele
verfasst am 21.10.2018 | einen Kommentar hinterlassen

AutorIn & Genre: Flügge, Manfred, Geschichte
Buchbesprechung verfasst von:
LiteraturBlog Bewertung:

Der Untertitel dieses Buches kann etwas in die Irre führen. Denn nicht nur das Wien im Jahr 1938 ist das Thema, nicht nur die Ereignisse rund um den “Anschluß” und das Verhalten der Österreicherinnen und Österreicher an diesen verhängnisvollen Tagen stehen im Mittelpunkt. Der Bogen spannt sich von der Zeit der Monarchie bis nach dem Ende der Naziherrschaft.

Es sind kurze Biographien von berühmten oder berüchtigten Zeitgenossen, die die Vorgeschichte beschreiben. Wie sich deren Leben hin zum Jahr 1938 entwickelte, wie sie von der Monarchie über den ersten Weltkrieg, die kurze Zeit der ersten Republik und dann den Ständestaat den Wandel der Zeiten er- und überlebten; wie alles eingerahmt und überschattet wird von dem, was sich in Deutschland zuerst als kleine Bewegung und dann als erdrückende Macht gewalttätig über Europa ausbreitete.

So ist über Freud zu lesen, über sein Wirken und seine Emigration (sehr ausführlich), über C.G. Jung und seine Nazianbiederungen, Franz Kafka, Adolf Hitler, Kurt Schuschnigg und Otto Habsburg, Franz Werfel und Stefan Zweig und viele, viele mehr.  Es sind Lebensläufe zu lesen, Buchbesprechungen und Analysen über die Arbeit und die Auswirkungen dieser Arbeit.

Das liefert einerseits unglaublich viel Informationen, viele historische Details, von denen man bislang wahrscheinlich noch nie gehört hat. Andererseits scheint es dem Autor oft nicht gelungen zu sein, sich selbst zu zügeln, denn regelmäßig wechselt mitten im Absatz das Thema, als scheint ihm gerade noch etwas eingefallen zu sein, was auch noch unbedingt ins Buch muss. Zu diesen Einschüben fehlt dann leider meist die Vor- und Folgegeschichte und somit der Zusammenhang. Das ist schade (andererseits hätte eine ausführlichere Beschreibung zu allem zu einem weit umfangreicheren Buch geführt).

Sehr anschaulich und – mit vielen Detail untermauert – nachvollziehbar gelingt es Manfred Flügge hingegen, im Zustand Österreichs nach dem Ende der Monarchie und den nachfolgenden Auseinandersetzungen zwischen den Parteien, eine der Ursachen zu erklären, die dazu führten, dass das Land am Ende nicht nur wehrlos sondern in weiten Teilen sogar begeistert war, als die von dem euphorischen Empfang überraschten deutschen Truppen die Grenze überschritten.

Je näher das Buch an das Datum des Einmarsches kommt, desto fesselnder wird es. Es ist bemerkenswert: obwohl das Ende natürlich bekannt ist und auch viele Details dazu, schafft es Manfred Flügge die Ereignissen in den Tagen und Wochen davor zu einer ungemein spannenden Erzählung zusammen zu führen. Da sind dann enorm viele Details dabei, die ich noch nicht kannte, die in Summe das ganze Bild ergeben. Dieser mittlere Teil des Buches beschäftigt sich mit dem Vorabend und den unmittelbaren Vorgängen des Anschlusses.

Im  dritten Teil ist über die Schicksale, die Lebens- und Leidenswege derer zu lesen, die es schafften, aus diesem nun verschwundenen Österreich zu emigrieren; oder derer, die es nicht schafften und deren Leben in einem der Vernichtunsglager der Nazis endeten. Auch hier nimmt die Biographie von Siegmund Freud großen Raum ein. Denn nachdem der Erforscher der Seele die Stadt verlassen hatte, war eben auch die Stadt ohne Seele zurück geblieben.

Stilmäßig ist dieses Geschichtsbuch beinahe ein historischer Roman – der aber eben ausschließlich Fakten zum Inhalt hat. Er vermittelt weiteres Wissen um die Vorgänge jener Zeit bei uns in Österreich.

Enorm wichtig in unserer Zeit, in der die Demagogie der Populisten auf so viele offene Ohren stößt; offene Ohren, deren Träger sich wohl noch nie mit unsere unmittelbaren Vergangenheit beschäftigt haben oder sich damit beschäftigen wollen; die keine Ahnung haben, was drohen kann, wenn man sich mit diesen Demagogen und Populisten einlässt.




Einen Kommentar hinterlassen

* erforderlich. Beachten Sie bitte die Datenschutzerklärung


Top