Buchbesprechung/Rezension:

Mechtild Borrmann: Die andere Hälfte der Hoffnung

verfasst am 07.09.2014 | einen Kommentar hinterlassen

AutorIn & Genre: Borrmann, Mechtild, Romane
Buchbesprechung verfasst von:
LiteraturBlog Bewertung:

Wie viele Mütter und Väter warten gerade in diesem Moment darauf, ein Lebenszeichen ihrer Tochter zu bekommen? Überall auf der Welt verschwinden jeden Tag junge Mädchen und geraten in den gnadenlosen Strudel aus Menschenhandel und Prostitution. Nur selten kann eine entkommen, noch seltener können diese verbrecherischen Netzwerke zerschlagen werden.

Die junge Frau, die barfuß die Landstraße entlang läuft ist auf der Flucht. Gerade erst konnte sie entwischen, doch sie weiß, dass hinter ihr schon die Treibjagd begonnen hat. Als sie, nahe an der Grenze zu den Niederlanden, einen einsam gelegenen Hof findet, kann sie kaum auf Hilfe hoffen. Doch Matthias Lessmann öffnet der jungen Frau seine Türe und verteidigt sie gegen ihre Verfolger. Dabei greift er auch zu den äußersten Mitteln.

Einige Monate später: eine Frau, Walentyna, lebt einsam inmitten der verstrahlten Zone rund um Tschernobyl. Sie ist in das Dorf zurückgekehrt in dem sie bis zur Katastrophe mit ihrer Familie lebte und wartet dort auf ihre Tochter. Ob Kateryna jemals zurück kommt weiß sie nicht, denn seitdem sie gemeinsam mit ihrer Freundin Olena nach Deutschland fuhr um dort für ein paar Monate zu arbeiten und die Sprache zu lernen, fehlt jedes Lebenszeichen von ihr. Die Zeit des Wartens nützt die Mutter, um die Geschichte ihrer Familie für ihre Tochter nieder zu schreiben. Eine Geschichte, die beginnt, als die Ukraine noch Teil der Sowjetunion war und unter der Herrschaft Stalins Millionen in der Ukraine starben.

Und noch einen Schauplatz gibt es: Düsseldorf. Dorthin reist der Polizist Leonid, der seinen Vorgesetzten in Kiew zu neugierig geworden war. Ihn hatte Walentyna – sie und Leonids Vater besuchten einst gemeinsam die Schule – inständig gebeten, ihre Tochter zu finden. Nun, da er suspendiert wurde, kann Leonid selbst entscheiden, was er mit seiner Zeit anfängt. Er kratzt alle Ersparnisse zusammen und fährt mit dem Bus quer durch Europa um Kateryna zu finden.

Mechtild Borrmann schreibt nicht nur einfach Krimis: sie bringt in jedes ihrer Bücher einen historischen Hintergrund ein und knüpft darum herum ein Netz an Schicksalen und Biografien. 

Für “Die andere Hälfte der Hoffnung” bereiste sie die Ukraine und lässt nun anhand der Familiengeschichte von Katerynas Mutter die Zeit in der Sowjetunion, das Leben und die bescheidenen Träume jener Zeit und dann die Kernkraftwerks-Katastrophe des Jahres 1986 wieder auferstehen (Wie Borrmann es beschreibt, hat sie diese – fiktive – Familiengeschichte auf den Informationen über die tatsächlichen Vorgänge aufgebaut). Alleine dieser Teil, die Chronik des Unterganges eines Systems (der UdSSR) und mit ihm der ahnungslosen Menschen (rund um Tschernobyl) bis zur Unabhängigkeit der Ukraine, ist ein lesenswertes Buch im Buch; es macht auch deutlich, wie die traumatischen Ereignisse des Jahres 1986 bis heute nachwirken.

Der Krimi-Teil des Buches nimmt sich eines allzu gegenwärtigen Themas an: den organisierten Menschenhandel, die Mafia-Strukturen, die dahinter stehen und wie tief alles in den staatlichen Strukturen einiger Länder verankert ist. Korruption und Schweigen sind die Machtbasis der Hintermänner dieser Organisationen, in deren Netz Jahr für Jahr unzählige Mädchen und junge Frauen für immer verschwinden.

Die Ängste und Sehnsüchte der Mädchen, die Ohnmacht der Polizei in Deutschland und die Sicherheit, dass es in Leonids Abteilung in der Ukraine einen Maulwurf an zentraler Stelle gibt: daraus entsteht eine Story, die zunehmend an Spannung gewinnt. Sind es zu Beginn noch einzelne Fäden, deren Verbindung man nur erahnen kann, so wird daraus in immer rasanterer Fahrt ein dichtes und ein bedrückend reales Bild. Die Handlung bleibt immer ganz nahe an einer möglichen Wahrheit – an der nämlich, dass auch die erfundenen Elemente auf Tatsachen beruhen (könnten).

Aus der Verbindung reiner Fiktion mit realer Vergangenheit und Gegenwart hat Mechtild Borrmann erneut einen Roman geschaffen, der mich zutiefst beeindruckt und berührt. Nach dem Lesen der letzten Seite musste ich erst ein paar Minuten lang durchatmen, bevor ich den Deckel schließen konnte.

“Die andere Hälfte der Hoffnung” steht – natürlich – auf meiner ganz persönlichen Top-Liste 2014.




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