Buchbesprechung/Rezension:

Volker Kutscher: Die Akte Vaterland
Gereon Raths vierter Fall

verfasst am 09.10.2012 | einen Kommentar hinterlassen

AutorIn & Genre: Kriminalromane, Kutscher, Volker
Buchbesprechung verfasst von:
LiteraturBlog Bewertung:

1932 – was für ein verhängnisvolles Jahr in Deutschland! Nur noch wenige Monate, bis der Gröfaz und seine Nazis an die Macht kommen und die Weimarer Republik vom “1000jährigen Reich” abgelöst wird. Doch schon seit langer Zeit verbreiten die braunen Schlägerhorden der SA Angst und Schrecken. Nur noch wenige Monate, bis die neuen Machthaber beginnen werden die Polizei in eine Organisation des Staatsterrors umzuwandeln. 1932 – als noch vieles hätte anders kommen können.

Das ist der historische Hintergrund, vor dem Kommissar Gereon Rath den gewaltsamen Tod eines Spirituosenlieferanten im Etablissement “Haus Vaterland” am Potsdamer Platz in Berlin zu klären hat. 

In der zuständigen Abteilung für Mordermittlungen geht alles noch weitgehend noch seinen normalen Gang. Gerichtsmedizin, Spurensicherung, Ermittler arbeiten an der Klärung der Fälle. Da ist (vorerst?) noch kein Platz für politisch motivierte Aktionen. In anderen Abteilungen der Polizeibehörde sieht das zur selben Zeit freilich schon ganz anders auch. Gewalttaten zwischen Links- und vor allem Rechtsradikalen stehen auf der Tagesordnung und beschäftigen eine ganze Polizeiabteilung, auch innerhalb der Abteilungen nehmen die Auseindersetzungen zwischen den Lagern zu.

Davon ist Gereon Rath im Moment noch ganz weit weg. Für ihn stehen ganz oben auf der Liste seiner Prioritäten zuerst seine geliebte Charly, die nach vielen Monaten in Paris endlich wieder nach Berlin zurückkehrt und danach, wenn auch mit gehörigem Abstand, die Aufklärung der Verbrechen, die auf seinem Schreibtisch landen.

Also genau jener Mord im Haus Vaterland. Schon die erste, vorläufige Diagnose, die der Gerichtsmediziner vor Ort stellt, hört sich seltsam an: Tod durch Ertrinken? In einem Aufzug, der zwischen dem 3. und 4. Stockwerk hängt? Und das geschieht ausgerechnet, während Gereon voller Freude am Bahnhof steht um seine Geliebte vom Zug abzuholen.

Zur ersten Diagnose gesellt sich bald eine zweite, endgültige: Der Tote wurde zuerst vergiftet und dann mit Wasser gefoltert (heutzutage nennt man das Waterboarding und kann sich das in Guantanamo ganz genau vorführen lassen).

Es beginnt die mühsame Arbeit der Polizei, damals nicht anders als heute: Zeugen befragen, Unterlagen sicherstellen und sichten, Spuren sammeln und auswerten. Schon von Beginn an liegt aber der Verdacht nahe, dass diese Tat den gewöhnlichen Rahmen eines Verbrechens in Berlin sprengt: alleine die Todesart legt schon einen Hintergrund nahe, die über die normalen Mordmotive hinaus gehen mag, ebenso der hohe Geldbetrag, der in den Taschen des Opfers gefunden wurde.

Doch Konkretes findet sich vorerst nicht. Wie soll man auch eine Tat in einem Etablissement aufklären, in dem alleine mehr als 1.000 Menschen beschäftigt sind, ganz abgesehen von den tausenden BesucherInnen, die kommen und gehen ohne irgendeine Spur zu hinterlassen.

Gereon Rath und seine Abteilung gehen zwei zentralen Fragen nach: wer konnte das seltene indianische Pfeilgift besorgen und zu welchem Zweck hatte der Tote 1.000 Mark in der Tasche? Raths Vorgesetzter bringt außerdem noch den Faktor Serientäter in die Überlegungen ein – gab es denn nicht auch anderswo schon ähnliche Mordfälle? Und da kommt auch Charly ins Spiel, anders aber, als Gereon es sich gewünscht hatte.

Volker Kutscher vermittelt deutlich, dass es ihm bei diesem Buch nicht nur um die Klärung eines Verbrechens geht sondern auch um die Dokumentation der Zustände zum Ende der Weimarer Republik. Das liest man aus der Schilderungen des gesellschaftlichen Umfeldes, sieht es daran, wie er die Polizeibehörden beschreibt, wie er die Menschen auftreten und was er sie erzählen lässt, daran, was er über Berlin, über das Deutschland des Jahres 1932 und über die Politik zu berichten hat.

Das alles schwingt anfänglich nur als bedrohliche Atmosphäre im Hintergrund mit. Doch weil man weiß, wie sich alles entwickelt wird, bekommen die Ereignisse rund um die Klärung des Falles immer mehr Gewicht. Weitaus mehr als bei anderen, “normalen” Krimis, die in “normalen” Zeiten spielen.

Rund 550 Seiten umfasst dieser Roman. Viel für einen Krimi. Davon braucht es schon fast 150 Seiten, bis die Ermittlung Fahrt aufnehmen, ein wenig viel, ein wenig langatmig für meinen Geschmack. Volker Kutscher schreibt dabei sehr detailliert über die Beteiligten, über ihre Verhältnisse zueinander; doch erhebt sich dabei die Frage, ob man das wirklich alles wissen muss für das Verständnis dieses Buches. Unterhaltsam: ja, schon. Spannend: nein. Notwendig: wird sich noch heraus stellen.

Dann aber drückt der Autor fast unbemerkt aufs Gas und beschleunigt das Tempo und den Ablauf der Ereignisse.  Man bemerkt es zuerst nicht an den einzelnen Sätzen, aber die Handlung wird immer dichter. Gereon geht Spuren nach, die ihn ins weit entfernte Ostpreußen führen. Es ist noch immer Deutschland, aber eine völlig andere Welt, weit weg von Berlin. Zur selben Zeit gehen auch die Ermittlungen in Berlin weiter und Charly beweist  dabei in ihrem neuen Job als Kommissaranwärterin, den überwiegend männlichen Kollegen (vorherrschender Tenor: eine Frau hat bei der Polizei nichts verloren, so eine ist höchstens als Tippse zu gebrauchen)  ihre Qualitäten als Ermittlerin.

Lässt man einmal die historischen Bezuge ausser Acht und betrachtet nur den reinen Krimi-Anteil dieses Romanes, dann ist auch der jetzt in der Oberklasse anzusiedeln. Ein äußerst komplexer Fall, den man aber trotz der vielen Beteiligten und Handlungsorte immer völlig im Blick hat.

Und während Gereon Rath dem Täter immer näher kommt, treibt mit tatkräftiger Hilfe all derer von Papens, Hindenburgs und Hitlers –  samt dessen Schlägertrupps mit dem Hakenkreuz am Ärmel – die Weimarer Republik rasend schnell ihrem Ende entgegen.

Der Kriminalfall steht im Vordergrund, doch Volker Kutscher gelingt daneben es auch vortrefflich, eine Chronik der damaligen Zustände zu schreiben. Deshalb muss ich am Ende eindeutig zu dem Resumee kommen, dass all diese scheinbar nebensächlichen Geschichten (s.o.) ganz wesentlich für das Gesamtbild dieses Romanes sind. Nicht zu viel, nicht zu wenig. Das macht aus diesem Krimi eine gleichmaßen fesselnde, interessante und bedrückende Lektüre.

Link:

Alles über das Haus Vaterland




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