Phillipe Sands: Die letzte Kolonie
Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Indischen Ozean
Autorin/Autor: Sands, Philippe
Genre:
Buchbesprechung verfasst von: Andreas
Kolonialismus, das etwas, das längster der Vergangenheit angehört – mag man meinen. Die Wahrheit aber ist, dass Kolonialismus in ganz offensichtlicher oder verkleideter Form weiterhin existiert.
Die verkleidete Form, das sind beispielsweise Rassismus, wirtschaftlicher und finanzielle Abhängigkeit. Die offensichtliche Form, das sind die Kolonien, die sich die europäischen Staaten über Jahrhunderte auf dem ganzen Globus aneigneten und von denen die meisten erst nach dem Jahr 1945 unabhängige Staaten wurden.
Dass es aber bis in die Gegenwart tatsächlich noch Kolonien gibt, das ist (jedenfalls mir) wohl weitgehend unbekannt.In diesem Buch geht es um das letzte britische Territorium im Indischen Ozean, den Chargos Archipel südlich von Mauritius.
Als Anwalt für internationales Recht ist Phillipe Sands schon rein fachlich gesehen einer DER führenden Experten weltweit für das Durchsetzen von Rechten von Volksgruppen. Durch seine publizistische Tätigkeit ist er überdies in der Lage, seine Anliegen auch aus der Enge und Anonymität von Gerichtssälen hinauszutragen.
Am Prozess, den Mauritius vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag gegen Großbritannien anstrengte, war Sands als einer der führenden Anwälte beteiligt. Dieser Prozess im Jahr 2022 war aber nur der vorläufige Schlusspunkt einer rund sechzig Jahre andauernden Auseinandersetzung.
Als in den 1960er-Jahren die Inselgruppe Mauritius die Unabhängigkeit erhalten sollte, trennten die Briten kurz vor Abschluss der Verhandlungen einfach und ohne Rücksprache einen Teil ab, an dem Briten und Amerikaner spezielles Interesse hatten. Es ging um die Insel Diego Garcia im Chargos Archipel, die in den nachfolgenden Jahrzehnten an die USA verpachtet und zu einem bedeutenden Militärstützpunkt der USA und deren Verbündeter ausgebaut wurde.
Militärische Besetzung und Verwaltung von fremden Ländern nach dem Muster der zurückliegenden Jahrhunderte verbot sich, dazu war die Weltöffentlichkeit schon viel zu aufmerksam geworden. Also ließen sich die Kolonialherren mithilfe juristischer Tricks ihr Tun als rechtmäßig absegnen, jedenfalls sahen die Briten ihr Treiben als rechtmäßig an. Alle Proteste seitens Mauritius führte zu nichts, für kurze Zeit vermochten die Briten den Widerstand mithilfe von Zahlungen abzuschwächen. Ohne weitere Notwendigkeit vertrieben die Briten wenig später auch die Bewohnerinnen umliegender Inseln, obwohl, wie Sands es belegt, es seitens der Amerikaner keine dementsprechenden Anforderungen gab.
Um diese Deportationen und um den Verstoß gegen das internationale Völkerrecht ging es in den folgenden Jahrzehnten.
Nachzulesen sind bemerkenswerte Einblicke in die Strukturen der internationalen Gerichtshöfe und in die politischen Manöver, mit denen die Entscheidungen beeinflusst wurden. Die Chronik der Urteile ist zugleich auch ein Einblick in den Versuch der früheren Kolonialmächte, nun eben mit quasi legalen Mitteln die ehemaligen Kolonien (also die Länder in Afrika, Asien und Südamerika) in ihren Rechten zu begrenzen. Zu Beginn der Tätigkeit der internationalen Gerichtshöfe setzten sich diese ausschließlich aus weißen Männern zusammen und es war wie selbstverständlich, dass Briten immer darunter waren. Erst im Laufe der Jahre änderte sich die Zusammensetzung.
Mir in diesem Umfang neu ist, wie sehr Urteile, ja sogar überhaupt Fragen der Zuständigkeit von der jeweiligen Zusammensetzung der Richterkollegien abhängen. Sands beschreibt detailliert nicht nur den jahrelangen Kampf der Menschen um die Heimat, aus der sie rücksichtslos vertrieben wurden, sondern die diplomatischen Winkelzüge, mit denen Weltpolitik beeinflusst wird.
Ein gleichermaßen bemerkenswertes Detail ist das anhand einiger Vorgänge belegte Umstand, dass Großbritannien nach dem Brexit ganz entscheidend an Einfluss auf der Weltbühne verloren tat. Dazu trug allerdings nicht nur das Votum gegen die EU und die damit verbundene abnehmende Unterstützung durch die EU-Staaten bei, sondern auch, dass sich Großbritannien bis vor wenigen Monaten schlichtweg weigerte, irgendwelche Urteile der Gerichte oder Resolutionen der UN-Generalversammlung zu befolgen.
Wie im Nachwort des Buches nachzulesen, scheint sich nun doch endlich eine Lösung abzuzeichnen, nach der die Vertriebenen – die noch leben und ihre Nachkommen – in ihre Heimat zurückkehren könnten.
Der ganze Vorgang ist jedoch ein Beleg dafür, wie sich Machtpolitik tagtäglich über die Rechte einzelner hinwegsetzt.