Rudolf Bilgeri: Bei den Partisanen in Athen
Tagebuch eines Deserteurs der Wehrmacht
Autorin/Autor: Bilgeri, Rudolf
Genre:
Buchbesprechung verfasst von: Gertie
Dieses Buch, das seltenes Dokument aus dem Zweiten Weltkrieg ist, verdanken wir einerseits Rudolf
Bilgeri selbst, der seine Erlebnisse aus den Jahren 1943-1947 niedergeschrieben hat, und andererseits einer Gruppe engagierter Wissenschaftler, die gemeinsam mit Rudolf Bilgeris Sohn Reinhold dieses sehr persönliche Tagebuch veröffentlicht haben.
Wer ist er nun, dieser Rudolf Bilgeri, der am 3. September 1944 aus der Deutschen Wehrmacht, die gemeinsam mit griechischen Kollaborateuren die Athener Bevölkerung und den Widerstand der einheimischen Partisaninnen und Partisanen gewaltsam unterdrückt haben, desertiert ist?
Rudolf Bilgeri (1907-1992) stammt aus Lochau, einem kleinen Ort nahe der Vorarlberger Landeshauptstadt Bregenz, und unterrichtet an der Hauptschule in Hohenems, als er im Juli 1943 zur Wehrmacht einberufen wird. Er findet Verwendung als technischer Zeichner von Schaltplänen für Verteidigungsanlagen in Athen.
Bilgeri, Vater von zwei Kindern, will nur eines: den Krieg überleben. Als sich am 3. September 1944 die Gelegenheit zur Flucht bietet, nimmt er diese Gelegenheit, die er in Gedanken bereits mehrmals durchgespielt hat, gemeinsam mit anderen Kameraden wahr. Um nicht einer Verfolgung und Hinrichtung ausgesetzt zu sein, lässt er die Flucht quasi als Überfall durch Partisanen aussehen, entledigt sich der verhassten Uniform und schließt sich der griechischen Volksbefreiungsarmee ELAS an, die in der unterdrückten und armen Bevölkerung Athens einen starken Rückhalt besitzt. Als die ELAS selbst in Bedrängnis gerät, durch rivalisierende Gruppen verraten zu werden, beschließt er, sich den Briten, die vor Kurzem auf Griechenland gelandet sind und die Wehrmacht zurückdrängen, zu ergeben. Die Überraschung ist groß, als er sich in einem Kriegsgefangenenlager in der ägyptischen Wüste wiederfindet, wo Gegner des NS-Regimes mit fanatischen Anhängern gemeinsam untergebracht sind.
Hier in Ägypten schreibt Rudolf Bilgeri seine Erlebnisse nieder und fertigt jene Zeichnungen an, die nun als Buch vorliegen. Gedacht sind diese Erinnerungen ursprünglich als Vermächtnis für seine Kinder, zum Nachlesen, denn sprechen kann Rudolf Bilgeri, der nach seiner Rückkehr nach Vorarlberg wieder als Lehrer arbeitet, wie viele seiner Generation über die Kriegserlebnisse nicht.
Rudolf Bilgeri ist einer der 800 namentlich bekannten Deserteure aus Vorarlberg und Tirol. Noch Jahre nach dem Kriegsende sind Deserteure Anfeindungen und auch der Verfolgung ausgesetzt, daher wird hier in der Öffentlichkeit geschwiegen. Man bezeichnet sie als Verräter und hält sie für Feiglinge. Das muss auch Rudolf Bilgeri am eigenen Leib erfahren, als er nach dem erfolgreich absolvierten Studium sich für die Stelle als Direktor des Feldkircher Gymnasium bewirbt und sie, man muss fast sagen, natürlich nicht erhält. Die Seilschaften der NS-Zeit sind, nachdem die Entnazifizierung bereits 1948 abgeschlossen ist, nach wie vor aktiv.
Rudolf Bilgeri wird die Rehabilitierung der Deserteure, die erst 2009, also mehr als 60 Jahre nach Kriegsende, mit dem „Aufhebungs-und Rehabilitationsgesetz“ durch das österreichische Parlament beschlossen worden ist, nicht mehr erleben. Er stirbt 1992, ohne dass sich jemand von offizieller Seite bei ihm entschuldigt hätte.
Erwähnen möchte ich auch die Rolle von Ilse Bilgeri (1912-2012), die ihrem Mann zeitlebens eine Stütze gewesen ist. Ihret- und der Kinderwillen, hat Rudolf Bilgeri die Desertion und die Kriegsgefangenschaft auf sich genommen. Beiden ist ihr Glaube und das Gottvertrauen gemeinsam.
Heute kann man Rudolf Bilgeris Namen auf dem Widerstandsmahnmal auf dem Bregenzer Sparkassenplatz lesen, vor dem ich mit gebotener Demut anlässlich einer Dienstreise gestanden bin. Das Mahnmal ist schlicht und erweckt lediglich durch das Rattern der Fallblattanzeige, das in regelmäßigen Abständen Namen aufblättert, Aufmerksamkeit.
„In einer Endlosschleife sind die Namen und Daten von 100 Vorarlbergerinnen und Vorarlbergern zu lesen, die dem nationalsozialistischen Unrechtsregime den Gehorsam verweigert oder aufgekündigt haben. Sie stehen stellvertretend für Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfer, Wehrdienstverweigerer und Deserteure, sowie Bürgerinnen und Bürger, die gegenüber Verfolgten und Misshandelten trotz Verbots Menschlichkeit geübt haben. Die Auswahl der Personen, deren Schicksale exemplarisch für viele mehr stehen, wurde gemeinsam mit dem Historiker Werner Bundschuh getroffen. Ihre Namen werden in alphabetischer Reihenfolge angezeigt, bewusst ohne Hierarchie oder Gewichtung in ihrer Positionierung.“
(www.widerstandsmahnmal-bregenz.at)
Fazit:
Diesem außergewöhnlichen Dokument, das durch Beiträge der Herausgeber Peter Pirker und Ingrid Böhler, des Historikers Iason Chandrinos sowie das Nachwort von Reinhold Bilgeri, der hier seine Erinnerungen an den Vater mit uns teilt, ergänzt wird, gebe ich gerne 5 Sterne und eine Leseempfehlung.