Orhan Pamuk: Das Museum der Unschuld
Autorin/Autor: Pamuk, Orhan
Genre:
Buchbesprechung verfasst von: Felix Haas
Das Museum der Unschuld erzählt uns von der ein halbes Leben andauernden Liebe zwischen Kemal, dem jungen Mann aus gutem Hause, und seiner mehr als zehn Jahre jüngeren entfernten Verwandten, Füsun. Im Istanbul der 70er Jahre trifft der anfangs erst 30 jährige Kemal seine 18 jährige Verwandte zufällig in dem Bekleidungsgeschäft wieder, in dem sie arbeitet. Trotz seiner bevorstehenden Verlobung mit der gleichaltrigen und ebenfalls aus gutem Hause stammenden Sibel, ist er sofort bezaubert von Füsuns Art und offensichtlicher Schönheit. Sie beginnen sich zu treffen, werden Geliebte und verbringen eine kurze Zeit, in der Kemal die glücklichsten Tage seines Lebens erfährt. Füsuns Familie hat jedoch nicht die finanziellen Mittel, um wie Kemal und Sibel in den Kreisen der jungen und modernen Istanbuler High Society zu verkehren. Kemal überzeugt sich an der Verlobung mit Sibel festzuhalten und beschließt damit sowohl sein, als auch Füsuns Unglück.
Als nach der Verlobung Füsun sich Kemal entzieht, beginnt Kemals Zeit des Leidens und der verzweifelten Suche, welche in gewisser Weise bis an sein Lebensende andauen soll. Er beginnt sich immer häufiger in die Wohnung zurückzuziehen, in der er und Füsun sich trafen. Schließlich endet sein innerer und äußerer Rückzug an diesen Ort in der Trennung von Sibel. Als er endlich den Wohnort seiner ehemaligen Geliebten erfährt, muss er feststellen, dass diese in der Zeit ihrer Abwesenheit einen jungen Mann ihres Alters geheiratet hat.
Es bricht eine Epoche an, welche beinahe ein ganzes Jahrzehnt andauern soll, in der Kemal praktisch völlig von der Istanbuler High Society zurückgezogen, seine Abende am Tisch der Eltern seiner Geliebten verbringt, neben ihrem Mann isst um mit ihren Eltern und ihr ein banales kleinbürgerliches Leben zu teilen. Seine Sehnsucht nach Füsun stillt Kemal indem er verschiedene Gegenstände entwendet, die im Haus ihrer Eltern einen Teil von Füsuns Alltag bildeten. Haarspangen, Porzellanhunde, Salzstreuer finden alle in die Wohnung in der er gemeinsam mit Füsun Jahre zuvor einen kurzen glücklichen Sommer verbracht hatte und sie schließlich zum Museum der Unschuld werden.
Auf der Basis der unerfüllt bleibenden Liebe Kemals, erbaut Pamuk ein Modelbild der Istanbuler Gesellschaft der 70er und 80er Jahre. Doch ist „Das Museum der Unschuld“ sicher kein politisches Buch, es ist ein privates. Es untersucht die Wohn-, Bade- und Schlafzimmer der Istanbuler jener Zeit. Es untersucht ihre Lebensräume, ihre Hintergassen, Frisöre, Cafés, ihre Filme, ihre Limonaden und Salzstreuer. Anders als in Pamuks anderen Büchern, ist alles Politische nur Hintergrund und nur insofern relevant, wie es das Privatleben der Menschen bedingt. Genau in diesen Situationen ist Pamuk am stärksten, wenn er uns mitnimmt in das Istanbul jener Zeit und uns immer wieder neue Details vor Augen führt, seien diese zunächst unscheinbare Gegenstände, oder Gesellschaftsnormen welche das alltägliche Leben jener Zeit bestimmten. Dass die Figuren wie auch die Handlung fiktiv sind, wird zur Nebensache und das Istanbul dieser Jahre ersteht neu und realer als in jedem Dokumentarbericht.
Wenn auch teilweise etwas langatmig, so erweist sich Pamuk in seinem Roman sicher als großer Erzähler, nicht immer jedoch als großer Poet. Die Beziehung zwischen Kemal und Füsun ist kompliziert und wird über die Jahre vor allem durch Kemals Obsession am Leben gehalten. Bei aller Detailverliebtheit und Genauigkeit in Pamuks Betrachtung des Äußeren, bleibt er in seiner Schilderung der Gefühlswelt seines Protagonisten immer wieder zu sehr an der Oberfläche. Mehrfach gelingen ihm tiefe und poetische Sätze, die uns am Rande Einblick in Kemals Innenleben erlauben, doch bleibt es uns mindestens genauso häufig verschlossen.
Als wunderbares Sinnbild Kemals verzweifelter Liebe dient das Museum, welches zunächst unbewusst, aus den zahllosen Gegenständen entsteht, die er Füsun über die Jahre entwendet. Des Weiteren verbindet sich hier ganz direkt die offensichtliche Handlung, die Liebesgeschichte zweier junger Menschen, mit dem was dahinter entsteht: ein minutiöses Abbild des Istanbuler Privatlebens jener Zeit.
Wenn es auch an Stellen langatmig wirkt und nicht immer durch die Poesie seiner Sprache besticht, ist Das Museum der Unschuld doch ein gelungenes Buch. Durch das Leitbild des Museum, gelingt es Pamuk auf wundersame Weise die Geschichte der Liebe Kemals und Füsuns mit dem Privatesten des Istanbuler Lebens einer vergangenen Epoche zu verbinden. Indem wir der Tragik ihrer Liebe folgen, erbauen Kemal und Füsun für den Leser ein Istanbul, das sie so, ähnlich wie die Gegenstände in Kemals Museum, in seiner Essenz präservieren.
Gastautor Felix Haas: zur Person
Felix Haas wuchs in Berlin auf, studierte Physik sowie Mathematik und lebte unter anderem in Frankreich, den USA und Mexiko. Heute lebt und arbeitet er in Zürich.