Buchbesprechung/Rezension:

Tanja Paar: Die zitternde Welt

Tanja Paar: Die zitternde Welt
verfasst am 11.05.2021 | einen Kommentar hinterlassen

AutorIn & Genre: Historische Romane, Paar, Tanja
Buchbesprechung verfasst von:
LiteraturBlog Bewertung:

Der Roman um das Schicksal einer Frau, die sich hochschwanger zu ihrem Geliebten nach Anatolien aufmacht, wo dieser als Ingenieur am Bau der Eisenbahnlinie nach Bagdad tätig ist, und die dort mit ihrer Familie Fuß fasst, bevor die Geschichte ihr ein anderes Schicksal zudenkt.

Angepriesen wird der Roman ungefähr mit den Worten, dass eine nach Selbstbestimmung strebende Frau ihr Glück in einer fremden Welt sucht  und findet, bevor diese letztlich über ihr zusammenfällt. Doch diese Darstellung wird der Vielschichtigkeit des Werks kaum gerecht, da Paar es mit einer klaren, nie kitschigen Sprache schafft, ein Multiversum der verschiedenen Kulturen zu entwerfen und der Roman weit ,mehr ist, als nur die Geschichte von Maria und ihrer Familie.  

Es wird kein folkloristisch verzerrtes Bild des osmanischen Reichs entworfen, sondern das Leben in der unwirtlichen, kalten Bergwelt stellt sich so normal dar, als wäre Leser*in selbst dort als Schafhirte aufgewachsen. Die Bilder dazu entstehen im Kopf und das ganz ohne blumige Attribute oder schwülstige Metaphern. Und eine Familie wächst mit den Seiten und ebenso wachsen einem die Figuren, Maria und Wilhelm, das (noch) ungetraute  Paar, sowie deren Kinder, Erich und Hans, sowie die Tochter Irmgard als Nachzüglerin (die erste Tochter ist bereits verstorben), ans Herz. Tatsächlich schien es ein glückliches Leben, das unter dem Schutz des lokalen Paschas stattfinden konnte. Wilhelm, der Österreich wegen der sich bietenden Chance, hier zu Wohlstand und Ansehen zu kommen, verlassen hat, legt Wert auf gespitzte und geordnete Bleistifte auf seinem Arbeitstisch, lässt dafür seiner Partnerin ausreichende Freiheiten, auch wenn er ahnen kann, was Maria bei den Ausritten mit dem Französischlehrer, Monsieur Bertrand, so machen wird.

Unaufdringlich wird neben dieser Familiengeschichte sehr viel Wissen um Zusammenhänge und Wirtschaft in Bezug auf das osmanische Reich eingebaut. Und egal, ob es sich um die Bahnstrecke oder die Ölpipeline später handelt, man erfährt, dass der Nahe Osten schon immer Spielball der politischen wie wirtschaftlichen Interessen der Bigplayer der Weltpolitik war. Dann bricht der erste Weltkrieg aus und die Welt über Maria und ihrer Familie zusammen und wird zerrissen. Denn die Söhne müssten als in der Türkei Gebürtige dort ihrer Einberufung an die Front Folge leisten. Mit Hilfe des Paschas gelingt ihnen die Flucht.

Dann endet der erste Teil und es ist gut, dass die Autorin hier eine Zäsur zum zweiten Teil schafft, denn ab nun stehen vor allem die ungleichen Brüder Hans und Erich im Fokus. Der eine versucht sich mit gefälschten französischen Papieren zu Monsieur Bertrand durchzuschlagen, und versteckt sich auf seiner Flucht im Karst (es gibt wenig gelungenere Beschreibungen von dieser rauen und zugleich bezaubernden Gegend um Triest), während der andere genau dort seinen Kampfeinsatz für die habsburgische Armee hat. Nach dem Krieg bricht Erich den Kontakt zur Mutter ab und sucht, wie schon der Vater Wilhelm, sein Glück erneut in der Türkei (Öl ist jetzt wichtig). Dabei lässt er auch seinen neuen Freund und Gönner Ali, der ihm bei vielen Gelegenheiten finanziell  unter die Arme gegriffen hat, sowie dessen Schwester Defne in Istanbul (wie Konstantinopel nun heißt) zurück. Maria und Irmgard mussten in Wien bleiben, wo sie nach dem Tod von Wilhelm wenigstens die feuchte Bassenawohnung gegen eine moderne Gemeindewohnung tauschen konnten. Doch auch die junge Sozialdemokratie wird bald vom Mantel des Faschismus erstickt werden.
Der zweite Teil macht wenig Hoffnung, die Schicksale spitzen sich dramatisch zu und ich musste beim letzten Drittel immer wieder Lesepausen einlegen, um die Eindrücke und Entwicklungen zu verarbeiten.

Mein Fazit:
Es ist ein Buch, das einen hinterrücks packt. Mit eher leisen Tönen kommt der Kanonendonner einer bewegten, ja einer zitternden Welt daher. Daher eine unbedingte Leseempfehlung.

Und eins noch:
So viel Zeitgeschichte nebenher in eine packende Romanhandlung zu bringen, schafft sonst nur Andreas Pittler mit seinen historischen Kriminalromanen (Bronsteinserie).




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