Buchbesprechung/Rezension:

Hallgrímur Helgason: Eine Frau bei 1000°

verfasst am 03.10.2011 | einen Kommentar hinterlassen

Autorin/Autor: Helgason, Hallgrímur
Genre:
Buchbesprechung verfasst von:
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Nach den ersten 20,25 Seiten sickerte es ganz langsam durch: Forrest Gump! Ich lese hier ein Buch über Forrest Gump, nur eben in der isländischen, weiblichen und weniger rührenden sondern eher verschärften, direkteren Version. Diese Erkenntnis half mir ab diesem Zeitpunkt enorm weiter beim Lesen, denn bis dahin hatte ich mich schon mehrmals gefragt, wo überhaupt ich denn hier hinein geraten war.

Tom Hanks sitzt auf seiner Bank im Park und erzählt seine Forrest-Gump-Geschichte. Das ist ein weitaus angenehmeres Bild als jenes, das bei den Erzählungen der 80-jährigen kettenrauchenden, bettlägerigen, pflegebedürftigen Herbjörg Maria Björnsson entsteht. Nicht nur weil sie, abgeschoben von der Familie, in einer ehemaligen Garage mit Bett und PC ihre Tage dahin lebt. Das alleine wäre eher bemitleidenswert. Nein, das Bild der Frau auf dem Buchumschlag wirkt auf mich einfach … unheimlich und abweisend, kalt (ist das Mann oder Frau, 80 oder 180 Jahre alt, noch lebendig oder schon tot?). Und ihre Erzählungen verstärken diesen Eindruck noch.

Und wie komme ich auf Forrest Gump? Herbjörg, die Enkelin des isländischen Präsidenten, Herbjörg, die die Beatles in Hamburg getroffen hat und mit John Lennon geknutscht, Herbjörg, die in Südafrika während der Apartheit am Tisch des Präsidenten saß, die Marlene Dietich kennen lernte und deren Vater ein glühender Naziverehrer war. Und noch ein paar Ereignisse mehr, die für Island, für Europa innerhalb ihrer eigenen Lebensspanne wichtig waren, hat sie selbst erlebt, war ein Teil davon, kann sich daran erinnern und darüber berichten.

Was diese Berichte aber an Wahrheitsgehalt beinhalten, daß muss man sich selbst ausrechnen. Wenn die alte, vom Krebs zerfressene Frau heute im Internet als jugendliche Schönheitskönigin auftritt und Männer aus der ganzen Welt sich in sie verlieben lässt, sagt das genug aus über ihre Geschichten aus der Vergangenheit? Je mehr ich von ihr lese, desto mehr wandelt sich das Bild von Tom Hanks in Hans Albers; von Forrest Gump in den Lügenbaron Münchhausen (ob das gerecht oder ungerecht ist – ich weiß es nicht). Hallgrímur Helgason lässt es offen, ob er eine Geschichte über das Leben einer Frau erfindet, oder die Geschichte einer Frau, die ihr Leben erfindet.

Ein vor und zurück in der Zeit: ein (halbes) Kapitel lang sind wir in der Garage, erleben Herbjörg wie sie heute ist, krank, eigentlich schon bald tot, sarkastisch. Alleine mit sich, ihrem PC und ihrer (deutschen) Handgranate, die sie seit dem 2. Weltkrieg begleitet (man weiß ja nicht, wozu man so ein Ding gebrauchen könnte). Dann wieder zurück in ein vergangenes Kapitel ihres Lebens, räsonierend (sehr oft) über Männer, die Welt zur jeweiligen Zeit, die Länder und die Menschent im Allgemeinen. Dann grenzen sich ihren Gedanken zeitlich ein, dreht sich alles um die Zeit von Beginn bis zum Ende des Weltkrieges, darum, wie sie in dieser Zeit lebte, wie sie damals eine andere wurde.

Ihre Geschichten sind manchmal amüsant, manchmal traurig, zynisch und anklagend, verzeihend und komisch. Ganz so auf und ab, wie es die Biografie eines bewegten Lebens sein kann. Dabei legt sie bei ihren Erinnerungen keinen gesteigerten Wert auf Chronologie, es geht vor und zurück, lediglich der Anfang und der Endpunkt sind fest: 1929, das Jahr ihrer Geburt und 2009, das Jahr, in dem sie in der Garage haust. Ihr Räsonieren ist dabei oft eine Anklage, ein Mensch, unzufrieden mit dem Ausgang und dem Verlauf seines/ihres Lebens kann auch im Rückblick wohl kaum viele wertvolle, positive Momente finden.

Es ist ein Ein-Personen-Stück in einer Szene. Das Bühnenbild ändert sich nicht, es bleibt immer das Bett, die Garage, der PC, die Handgranate. Hin und wieder Gastauftritte von NebendarstellerInnen. Die Rückblicke sind wie Einspielungen, projiziert auf die Wand hinter dem Bett, Herbjörg spricht dazu mit alter, verrauchter Stimme, bewegt sich nicht.

Man sieht, ich habe einige Eigenbau-Bilder gebraucht, um in dieses Buch hinein zu finden, einige entstanden zwischen den Seiten – Bilder, die, da bin ich sicher, kaum bei anderen LeserInnen entstehen werden, die werden sich, wenn überhaupt, ihre ganz eigenen zurecht malen. Mit diesen Bilder und Assoziationen aber wurde für mich langsam aber sicher etwas Lesenswertes daraus. Ohne sie? Kann ich nicht sagen, ich hätte möglicherweise nach einigen Seiten aufgehört (und das wäre, im nachhinein betrachtet, schade gewesen).

So begann eine abwechslungsreiche Lesereise durch die Zeit und durch ein Leben. Mit jeder gelesenen Seite benötigte ich die (Hilfs)Bilder weniger, konnte ich mich mehr in die Erzählungen und in die Erzählerin hinein versetzen und beides mit erleben. Oft etwas derb, direkt, ungeschminkt und brüsk in der Sprache aber insgesamt genau so abwegig und skurril, wie ich es mir von Hallgrímur Helgason erwartet hatte.

PS eine Sache hat mich bei diesem Buch beeindruckt: immer wieder, mitten im Text, finden sich kurze Formulierungen, die eine Situation, einen Gedanken, ein Geschehen, eine Erinnerung oder eine Sache mit wenigen Worten enorm prägnant und bildhaft beschreiben. Beispiele dafür zu bringen wäre allerdings nicht zielführend, es fehlte dabei ja der Kontext der Handlung. Da hilft nur selbst lesen.




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