Buchbesprechung/Rezension:

Romain Gary: Europäische Erziehung

Europäische Erziehung
verfasst am 06.08.2025 | einen Kommentar hinterlassen

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Ein grandioser Roman über ein fiktives Geschehen inmitten realer Zeitgeschichte.

Über das Leben unter der Besatzung der Nazis, wenn die Befreiung in weiter Ferne liegt, wenn die Unterdrückung und der Terror kein Ende zu nehmen scheinen. Denn wer in dieser Zeit lebt, kann nicht wissen, wie lange es noch dauern wird, Nachrichten aus der Welt draußen dringen nur spärlich zu den Menschen.

Der Roman beschreibt die Zeit im besetzten Polen rund um den Winter 1942/1943. Tausende Kilometer entfernt bahnt sich in Stalingrad die entscheidende Wende an, doch noch ist nichts entschieden, noch kann das Töten an der Wolga für beide Seiten den Sieg bringen. Die Nachrichten, die von dort bis nach Polen gelangen, sind mehr Gerüchte als Informationen, mehr Hoffnung als Wissen. Noch wird es Wochen und Monate dauern, bis die Menschen das erfahren, was wir heute aus den Geschichtsbüchern wissen

Im Mittelpunkt steht die Geschichte von Janek, einem vierzehnjährigen Jungen, der als einziger aus seiner Familie übrig ist. Seine Brüder wurden ermordet, sein Vater setzte seinem Leben mit einer Verzweiflungstat ein Ende und seine Mutter wurde von den Nazis verschleppt. Auf sich alleine gestellt, ist Jan ist auf der Suche nach den Partisanen, die sich in den Wäldern in Höhlen verstecken.

Es gibt einen Satz, den sein Vater ihm zum Abschied mitgab, der Janek immer an das erinnern wird, was er für immer verloren hat:

Nichts Wichtiges stirbt

So bleibt es in diesen Jahren bei einzelnen Anschlägen auf Einrichtungen der Nazis oder auf Transportwege. Einem solchen Anschlag folgt immer die gleiche Reaktion der Besatzungsmacht, es wurden die Geiseln genommen, Menschen erschossen. Wie lange es noch so weitergehend wird, kann niemand vorhersagen.

Die Partisanen müssen sich nicht nur vor den Nazis verbergen, sondern auch vor Kollaborateuren, denn es gab und gibt immer Verräter, die sich einen persönlichen Vorteil erhoffen. 

Janek findet Anschluss an eine Gruppe und bewährt sich als Kundschafter, der Nachrichten überbringt und den Kontakt zwischen den einzelnen Widerstandsgruppen hält. Eines Tages lernt er Zosia kennen, kaum älter als er selbst, aber schon seit langem von den Nazis missbraucht. Zosia hat gelernt, ihre Gefühle abzustellen, wenn wieder einer der unzähligen Soldaten sie auswählt; was die aber nicht wissen, ist, dass das Mädchen, das sie gewissenlos missbrauchen, sie zugleich ausspioniert und den Widerstand mit Informationen versorgt.

Der Krieg sorgt dafür, dass aus Kindern und Teenagern in kurzer Zeit Erwachsene werden. Zwischen Janek und Zosie entwickelt sich schnell eine tiefe Verbundenheit, dann Liebe. Zwei junge Menschen, die in einer Welt leben, in der man nicht wissen kann, was der nächste Tag bringen wird. Die beiden wissen nicht genug über Friedenszeiten, die liegen schon Ewigkeiten zurück. Aber sie machen sich Gedanken über die Zeit danach.

»Und wie wird sie aussehen, die neue Welt?«
»Es wird keinen Hass mehr geben.«
»Dazu muss man viele Menschen töten …«
»Dazu muss man viele Menschen töten. Ja.«
S. 91

»Was ist Faschismus?«
»Das weiß ich nicht genau. Eine Art zu hassen.«
»Unsere Kinder sollen niemals Hunger haben. Und sie dürfen niemals frieren.«
»Kein Hunger, kein Frieren.«
»Versprich es mir.«
S. 91

Europäische Erziehung“ ist ein überwältigend eindrücklicher Roman über das Erleben und Überleben inmitten der apokalyptischen Welt des okkupierten Polen.

Weil wir jetzt wissen, wie die der Krieg zu Ende ging, dann ist es für uns schwer nachzuvollziehen, was die Menschen bewegte. Denn die Frage, ob und wann das alles jemals zu Ende gehen würde, konnte niemand beantworten, alles blieb offen. Eine der großen Stärken des Romanes ist es, zumindest einen kleinen Ausschnitt von dieser alles umfassenden Ungewissheit zu vermitteln.

Dazu zieht Romain Gary auch noch eine zweite Erzählebene ein, die in der Ferne angesiedelt ist. Einer der Partisanen schreibt ein Buch, aus dem er manchmal vorliest, wenn sich alle in er Nacht in ihr Versteck zurückgezogen haben. Dann erleben die, die um die Feuerstelle herum sitzen, es gewissermaßen mit, wie sich die Menschen an anderen Orten gegen die Nazis zur Wehr setzen; oder wie deutsche Soldaten, die auf Befehl ihres Führers an irgendeine Front geschickt wurden, dort voller Angst ihr Schicksal erwarten. Allen ergeht es gleich: jederzeit kann der Tod kommen, jeder einzelne Tag, den man überlebt, ist ein Geschenk. 

 

Der Roman entstand während des Kriegs, als der in Vilnius geborene Romain Gary (eigentlich: Roman Kacew) in der Luftwaffe der Freien Französischen Streitkräfte als Pilot diente. Das Gefühl, die Zukunft nicht planen oder auch nur teilweise vorhersehen zu können, kannte er also aus eigenem Erleben. Insofern  spiegelt dieser Roman wohl auch das wider, was der Autor selbst erlebte, fühlte, hoffte, fürchtete. 

Obwohl so viel über Grausamkeit und Brutalität zu lesen ist, ergibt sich insgesamt doch eine positive Botschaft aus diesem Roman. Es ist jene, dass uns so viel in Europa vereint, egal aus welcher Region des Kontinents wir kommen, welche Meinung wir vertreten oder was wir aus unserem Leben machen wollen. Als Europäerinnen und Europäer eint uns der Wille zu Freiheit und damit auch folgerichtig – doch das übersehen zu viele – der Wille und die unbedingte Bereitschaft, anderen ihre Freiheit zu lassen.

Das alles lässt sich deckungsgleich bis in unsere Gegenwart weiter denken, in der zu viele vergessen haben, welche menschengemachte Katastrophen Europa bereits durchlebte, als einige wenige beschlossen, dass nur ihre eigene Freiheit zählt und alle anderen nichts als Spielfiguren ihrer wahnsinnigen Pläne sind.

Romain Gary entwarf mit diesem Roman auf rund 200 Seiten ein außergewöhnlich eindrückliches und beeindruckendes Bild einer Zeit des Irrsinns, versehen mit einem kleinen hoffnungsvollen Ausblick.




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