Buchbesprechung/Rezension:

Gert Loschütz: Besichtigung eines Unglücks

Gert Loschütz: Besichtigung eines Unglücks
verfasst am 08.09.2021 | einen Kommentar hinterlassen

Autorin/Autor: Loschütz, Gert
Genre:
Buchbesprechung verfasst von:
LiteraturBlog Bewertung:

Schon selbst gelesen? Gib hier Deine Bewertung zum Buch ab!
[Gesamt: 1 Durchschnitt: 5]

Drei Erzählungen, die nur lose oder überhaupt nicht miteinander zusammenzuhängen scheinen. Ausgangs- und Mittelpunkt all dessen ist ein Unglück, das sich im Dezember 1939 zutrug.

Nazideutschland im Krieg, gerade erst hatte die Wehrmacht Polen besetzt, gerade noch hallte der Siegesjubel durch die Straßen und Häuser. Doch es war Krieg und dem hatte sich alles unterzuordnen. Was dieses Unglück, die größte Zugkatastrophe, die sich bus heute in Deutschland zugetragen hat, eine Folge dieses Krieges?

Das Unglück ereignete sich am 22. Dezember 1939 in der Nähe von Gethin in Sachsen-Anhalt. Ein Zug raste, nachdem mehrere Haltesignale ignoriert worden waren, in einen auf der Strecke stehenden Zug. Das Unglück forderte beinahe 200 Todesopfer, verschiedene Quelle sprechen sogar von doppelt so vielen. Die genauen Zahlen wird man nie erfahren.

Gethin ist der Ausgangspunkt für die drei Erzählungen.

Zunächst ist Gert Loschütz selbst in Gethin geboren. Aus dieser seiner Herkunft entwickelt Loschütz den Ich-Erzähler des Romanes, den Journalisten Vandersee, der auf der Suche nach seiner eigenen Vergangenheit auf die Akten und Protokolle zum Unfall stößt. Im ersten Kapitel des Romanes wird man beim Lesen gewissermaßen selbst Zeuge des Unfallherganges. So detailreich und klar werden die Entstehung, der Unfall selbst und die nachfolgenden Ermittlungen beschrieben, dass alles ungemein bildhaft, beinahe wie in einem Film abläuft: Aus diversen Winkeln betrachtet, manchmal ein Stück in der Zeit zurück um die Entstehung eines anderen Details nachzuvollziehen.

Selten noch haben ich eine so großartige Beschreibung eines historischen Ereignisses gelesen.

Vandersee entdeckt in der Liste der Toten und der Verletzten jeweils den Namen Buonomo: unter den Toten Giuseppe und unter den Verletzten Carla. Carlas Name stellt sich indes als falsch heraus, ihr richtiger Name ist Finck, sie war Halbjüdin. Weshalb reisten die beiden miteinander, weshalb gab Carla einen falschen Namen an? Bis dahin war sie mit Richard Kuiper verlobt, einem Juden. Zwei Menschen also, Carla und Richard, die bei jedem ihrer Schritte darauf achten mussten, nicht der Gestapo aufzufallen, die immer unter der Bedrohung lebten, in ein Lager verschleppt zu werden.

Der Geschichte von Carla, Richard und Giuseppe widmet sich das zweite Kapitel. Darin findet sich dann auch eine mögliche Verbindung zu Vandersees Mutter Lisa: haben die beiden, Carla und Lisa, einander gekannt, sind sie einander begegnet?

Vandersees eigene Jugend, die Flucht aus der DDR zu Beginn der 1960er-Jahre, die unbeantwortete Frage, wer sein Vater war. Das ist der Inhalt des dritten Kapitels.

So unterschiedlich, auch im Stil, diese drei Kapitel sind, so haben sie doch das zentrale Thema des Romanes gemeinsam: die Frage, wie Zufälle zu unabwendbaren Ereignissen führen, ob und ab wann es weder möglich noch sinnvoll ist, nach Schuldigen zu suchen, wenn sich doch alles scheinbar schicksalhaft ergeben hat. Wo Zufälle sind, sind auch Chancen, es anders zu machen, Chancen, dass nur ein winzig kleiner Hauch des Schicksals das darauf folgende Geschehen in eine gänzlich andere Richtung gewendet hätte. Der Zug, nur vier Sekunden früher an einem bestimmten Ort; Lisa nicht mehr in Deutschland, sondern in die USA ausgewandert; Carla, die auf einem anderen Platz im Zug sitzt.

Im Roman sind es nur diese drei Ereignisse, die ganz anders hätten ablaufen können. In der Geschichte der Welt hätte der eine oder andere kleine Hauch uns eine ganz andere Gegenwart bescheren können. Ein einziger Hauch in nur einer diese Millionen von Ereignissen, die es gab, hätte gereicht. Was ebenso ein nachhaltiger Gedanke ist: über das Wirken unserer heutigen Handlungen auf das, was später passiert.

Als Erzähler ist Gert Loschütz eine wahre Macht. Er betrachtet seine Geschichte von allen Seiten und lässt sie uns, die Leserinnen, gewissermaßen in allen Dimensionen miterleben.


Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2021




Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert


Top