Werner Stanzl: Venedig unterm Doppeladler
Zwischen Arrangement und Kolonialismus

Autorin/Autor:
Genre:
Buchbesprechung verfasst von: Andreas
Online bestellen:

Wenn es heißt, das die Habsburgermonarchie keine Kolonialmacht war, das stimmt das nur insofern, als die Habsburger nicht an der Aufteilung Afrikas unter den europäischen Mächten beteiligt waren.
Kolonien gab es aber: gegen den Willen der Bevölkerung okkupierte und ausgebeutete Länder innerhalb Europas. Zwar waren diese Landnahmen eine Folge des über Jahrhunderte andauernden Verschiebens von Grenzen und Einflusszonen auf unserem Kontinent und es gab kaum einen Staat oder ein Herrscherhaus, das sich nicht daran beteiligte. Doch Kolonien waren es dennoch.
Venedig, der damals älteste noch bestehende Staat in Europa, verlor seine Selbständigkeit im Zuge der ersten Feldzüge Napoleons zum Ende des 18. Jahrhunderts. Da Napoleon im Grunde genau aus dem gleichen Holz geschnitzt war, wie die vom ihm bekämpften Regenten der Kontinentalmächte, ging er daran, besiegte Länder ganz im Stil einer Kolonialmacht auszuplündern. Nachdem Napoleon ganz Norditalien unterworfen hatte, darunter eben auch Venedig, führte ein Friedensvertrag mit Kaiser Franz I dazu, dass die Serenissima an Österreich fiel.
Mit Unterbrechungen blieb Österreich für die folgenden Jahrzehnte die bestimmende Kraft in Norditalien und wurde durch die Besetzung Venedigs und der Übernahme seiner Flotte auch zur bestimmenden Seemacht in der Adria. Diese Vormachtstellung ging erst im Jahr 1866 zu Ende.
Wenn das benachbarte Triest über sechs Jahrhunderte hinweg eine österreichische Stadt wurde, die wie selbstverständlich ewiger Teil der Habsburgermonarchie bleiben sollte, blieb Venedig immer nur eine reiche, nach Unabhängigkeit strebende Enklave, an der sich die Habsburgermonarchie bedienen konnte.
Werner Stanzl fasst in diesem Buch den Wissensstand über Venedigs Geschichte im 19. Jahrhundert zusammen. Von Napoleon über Franz I/Franz II bis zu Franz Josef I war Venedig ein Spielstein der Großmächte, den man beliebig hin und her verschieben konnte. Das Recht ging von den Besatzern aus, die Bevölkerung hatte sich einem fremden System zu fügen, Widerstand wurde mit Gewalt beantwortet, Vermögen wurden über Steuern angezapft.
Das entspricht in gewisser Weise der Definition einer „Kolonie“!
Zum Verständnis dieses Buches ist es, aus meiner Sicht, wichtig zu wissen, dass der Autor kein Historiker ist. Wie er selbst im Vorwort schreibt, ist er nur derjenige, der die Arbeit von Historikern zusammengetragen und in eine populärwissenschaftliche Form gebracht hat. Dabei verzichtet er auch nicht auf wertende Aussagen und lässt keinen Zweifel daran, wie negativ er diesen Ereignissen und insgesamt dem System der Monarchien abgewinnen kann
Damit zu dem, worum es geht: die Geschichte Venedigs im 19. Jahrhunderts
Einen großen Teil des Buches nehmen zunächst die Eroberungszüge Napoleons ein. Im Zuge seiner Märsche durch Europa starben nicht nur hunderttausende, er verschob Grenzen nach Belieben und versorgte seine Verwandten und Freunde mit gut dotierten Ländereien, für die er sie dann auch gleich zu Königen oder Herzögen ernannte.
Die Habsburgermonarchie war dabei sowohl Sieger als auch Verlierer. Zuerst wurde ihr Venedig zugeschlagen (1797-1806), nur um wenige Jahre später, nach der Niederlage bei Austerlitz, die Stadt wieder an Napoleon zu verlieren. Der für einige Jahrzehnte letzte Wechsel der Besatzungsmacht erfolgte 1815, als Österreich nach dem Wiener Kongress Venedig wieder in Besitz nahm. Die Bewohner der Stadt wurden nicht gefragt, so etwas war in den politischen Usancen des 19. Jahrhunderts nicht vorgesehen.
Werner Stenzl bettet umfangreiche Daten und Fakten über die Zeit Venedigs als Teil der Habsburgermonarchie in die gesamteuropäische Geschichte und Machtpolitik ein. Das zeigt, wie damals mit Grenzen, Ländern und der Bevölkerung je nach politischem Interesse herumjongliert wurde, Venedig war dabei nur einer von vielen „Spielsteinen“, mit denen die Großmächte ihre Einflussbereiche ausbalancieren konnten.
Ergänzt wird die Beschreibung der politischen Verhältnisse mit Informationen über das Wirtschaftsleben, die Lebensverhältnisse, den technischen Fortschritt und die gesellschaftlichen Umbrüche.
In Summe liest in diesem Buch eine sehr umfangreiche Chronik Venedigs, verfasst aus zwei Perspektiven: aus der Sicht Venedigs und aus der Sicht der Herrscherhäuser Europas. Tatsächlich aber ist der Anteil Venedigs in diesem Buch recht gering, weitaus mehr ist über das zu lesen, was auf dem Kontinent insgesamt vor sich ging und direkte oder indirekte Auswirkungen auf die Lagunenstadt hatte. Eine Entwicklung, die in Italien am Ende in einem vereinten Königreich mündete.
Sehr empfehlenswert, wenn man sich ein Bild der Geschichte des 19. Jahrhunderts auch abseits der großen historischen Ereignisse machen möchte. Denn Österreichs Regenschafintermezzo in Venedig steht ansonsten in der öffentlichen und wissenschaftlichen Wahrnehmung meist im Schatten der Koalitionskriege mit Napoleon, des Wiener Kongress, des Revolutionsjahres 1848, des Krimkrieges oder der Gründung die Deutschen Kaiserreiches.
PS: Oft ist über den aufkommenden Nationalismus zu lesen. Was damals das Streben der Menschen nach Selbstbestimmung meinte, ist mittlerweile zum Vehikel für Ausgrenzung, Populismus und Unterdrückung von Freiheiten verkommen.