Rüdiger Barth, Hauke Friederichs: Deutschland 1946
Das Wunder beginnt

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Buchbesprechung verfasst von: Gertie
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„1946 ist das Jahr 1 nach Adolf Hitler. Die Städte liegen in Trümmern, viele Deutsche leben im Elend. In Nürnberg werden führende Nationalsozialisten zum Tode verurteilt, während der Schwarzmarkt boomt. Aber es finden die ersten freien Wahlen seit 1933 statt. Die Menschen strömen in die Theater, Hildegard Knef kommt ins Kino, überall eröffnen sich neue Chancen. Die Alliierten beginnen, den Besiegten zu vertrauen. Wohin mag das führen?“
Journalist Rüdiger Barth und Historiker Hauke Friederichs haben mit diesem Buch zum Jahr 1 nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ein penibel recherchiertes und fesselnd erzähltes Werk abgeliefert. Sie beleuchten das Jahr 1946 von Silvester 1945 bis zum Silvester 1946.
• Silvester 1945: Alles in Schwebe
• Jänner 1946: Die Würde des Menschen
• Februar 1946: Ich liebe, was lebendig ist
• März 1946: Ein Vorhang aus Eisen
• April 1946: Wir hab’n ja den Kopf
• Mai 1946: Mittags in der Wiese schlafen
• Juni 1946: Die Frau von heute
• Juli 1946: Die Vereinigten Staaten von Europa
• August 1946: Die Sandburg verteidigen
• September 1946: Da ist Licht
• Oktober 1946: Was fürs Leben
• November 1946: So gebt doch Antwort
• Dezember 1946: Das wäre doch gelacht
• Silvester 1946: Vor der Landung
Noch weiß niemand, wie sich Deutschland entwickeln wird. Es ist ja bekanntlich in vier Besatzungszonen aufgeteilt (hierzu gibt es eine Karte), denn den heutigen Bewohnern ist nicht (mehr) klar, wo die Zonen begonnen haben – ausgenommen natürlich die SBZ (also zunächst Sowjetische Besatzungszone, später DDR).
Monat für Monat hangeln sich die Bewohner, die Alliierten, die Rückkehrer, die Vertriebenen und die Kriegsgefangenen weiter. Die Alliierten sind sich in manchen Fragen uneins. Soll man Deutschland, so wie es Frankreich und die UdSSR vorhaben, in ein Agrarland zurück versetzen, weil man die Industrieanlagen demontiert und abtransportiert? Doch wie sollen dann die Reparationen bezahlt werden?
Für die SBZ ist alles recht schnell klar: Abtransport von Menschen und Maschinen zum Aufbau der Sowjetunion und Errichtung eines neuen Deutschland nach dem Vorbild der UdSSR. Walter Ulbricht und Erich Honecker stehen bereit.
Spannungen sind innerhalb der Alliierten sind damit vorprogrammiert, eine Spaltung der Siegermächte beinahe unvermeidlich. Nur mit Mühe kann Frankreich von einem ähnlichen Verhalten wie die UdSSR im deutsch-französischen Grenzland abgehalten werden. Ein besonderer Zankapfel ist Berlin.
Diese Monate der Ungewissheit, in denen die Hauptaufgabe darin besteht, die Menschen mit Wohnraum und Nahrung zu versorgen, ist ebenso eine Mammutaufgabe wie unbelastete Personen zu finden, denen die (Selbst)Verwaltung von Städten und Gemeinden sowie dem ganzen Land übertragen werden kann, verlangen allen einiges ab. Die Amerikaner erinnern sich an den ehemaligen Oberbürgermeister von Köln, Konrad Adenauer. Die Briten lehnen ihn vorerst ab.
Und dann, im Juli 1946 taucht er auf, der Gedanke an die „Vereinigten Staaten von Europa“. Ein Hirngespinst, oder doch mehr? Nun, es gibt sie nach wie vor nicht, sind doch zahlreiche nationalstaatliche Interessen einer Umsetzung im Weg. Immerhin, nach EWG gibt es die EU. Aber wird das reichen?
In jedem Monat beschreiben die Autoren einige Ereignisse wie die Nürnberger Prozesse sowie Personen, die daran beteiligt sind. Da sind die schon erwähnten Walter Ulbricht und Erich Honecker, die den Aufbau in der SBZ unter Aufsicht der UdSSR vorantreiben. Im Westen Konrad Adenauer noch ohne CDU und Willy Brandt bekommt zunächst keinen Fuß in die Tür. Enttäuscht kehrt vorerst er nach Oslo zurück. Seine große Stunde wird bald schlagen.
Wir begegnen interessanten Persönlichkeiten wie der ehemaligen Fliegerin Beate Uhse, die ein aufmerksames Ohr für die Frauen hat. Was tun, wenn die Nahrungsmittel für die bereits vorhandenen Kinder nicht reichen? Sie erinnert sich an eine, wenn auch nicht allzu sicheren Verhütungsmethode: Die Knaus-Ogino-Methode, bei der die fruchtbaren Tage des Menstruationszyklus ermittelt werden. An diesen Tagen soll Geschlechtsverkehr vermieden werden, um eine Schwangerschaft zu vermeiden. Dieser Rat hilft bei Vergewaltigungen allerdings nicht wirklich.
Nachdem Gustav Schickedanz Berufsverbot erhält, weil er schon 1932 in die NSDAP eingetreten ist, eröffnet seine Frau Grete kleinen Textilladen. Dass er sein großes Vermögen zum Großteil durch Arisierungen „erworben“ hat, kommt erst 1948 ans Tageslicht. Er wird nicht der einzige sein, dessen Verbrechen in der NS-Zeit erst später aufgedeckt werden.
Marion Gräfin Dönhoff sucht nach ihrer Flucht aus Ostpreußen ebenfalls nach Arbeit, egal was, nur etwas „mit Schreiben“ soll es sein.
Wir entdecken den jungen Vicco von Bülow und den doppelt so alten Erich Kästner. Während Bülow versucht als Gelegenheitsarbeiter und später als Grafiker Fuß zu fassen, sucht Erich Kästner nach verlorenen gegangenen Kindern, um Familien wieder zusammenzuführen.
Wir treffen auch Fritz Walter, jenen Ausnahmefußballspieler, der während des Krieges als Mitglied der „Roten Teufel“, wie einige andere Nationalspieler mehrmals vor dem Einsatz an der Front durch Bundestrainer Sepp Herberger und Hermann Graf, einem fanatischen Fußballfan und Luftwaffen-Major geschützt worden ist (Stichwort „Operation Soldatenklau“). Nun, nachdem er aus der Kriegsgefangenschaft nach Hause gekommen ist (auch hier hat der Fußball mitgewirkt) trainiert er auf dem Betzenberg eine französische Soldaten-Elf.
Und plötzlich ist das Jahr 1946, das Jahr 1 nach Hitler um. Die Weichen sind für das gestellt, das man gemeinhin das „Deutsche Wirtschaftswunder“ nennt, im Westen mehr als im Osten.
Epilog, zahlreiches Bildmaterial und ein ausführliches Literaturverzeichnis finden sich am Ende dieses interessanten Sachbuchs.
Fazit:
Gerne gebe ich diesem Buch, das durch seine schnörkellose und gut lesbare Wissensvermittlung besticht, 5 Sterne und eine Leseempfehlung.