Jonathan Coe: Bournville
Ein Roman in sieben Ereignissen
Autorin/Autor: Coe, Jonathan
Genre:
Buchbesprechung verfasst von: Andreas
Online bestellen:
Nach dem Ende der Corona-Pandemie ist der Beginn der Romane darüber. Jonathan Coes „Bournville“ nimmt seinen Ausgang in den Tagen, als sich uns eine Welle näherte, deren Höhe und Kraft wir nicht abschätzen konnten. Lockdowns, Ausgangsbeschränkungen, Social Distancing, ein unheimliches Virus nahmen ein Land nach dem anderen in Besitz und zugleich fanden diese und viele andere neue Begriffe den Weg in unsere Sprache.
Lorna landet auf dem Flughafen in Wien, ein Konzert ist geplant, dann weiter nach München zum nächsten Konzert und danach in die Städte im Norden. Hinter ihr, Italien hat schon Maßnahmen getroffen, schließen sich die Türen. Lorna und Mark, mit dem sie das Jazzduo bildet, surfen gewissermaßen vor der Welle dahin und davon.
Das alles liest man im Prolog des Buches, der im März des Jahres 2020 spielt – es ist noch gar nicht so lange her – und die Erinnerungen an damals wieder hervorruft. Die Unsicherheit, die Furcht vor dem unbekannten, der reduzierte Umgang mit anderen Menschen, die Angst um Freunde und Familie.
Viele von uns fanden in den darauf folgenden Wochen und Monaten etwas, mit dem sie die neue Einsamkeit füllen konnten, als wir uns angewöhnten über Video zu kommunizieren, Masken zu tragen und auf das Händeschütteln zu verzichten. Es war die Zeit der oft sinnvollen, manchmal absurden Regelungen, der grausamen Trennungen und der endgültigen Abschiede.
Wir hatten viel Zeit, uns mit Dingen zu beschäftigen, die in normalen Zeiten keinen Platz hatten. Wir hatten Zeit, uns an Momente der Vergangenheit zu erinnern, wohl so wie wir uns in einigen Jahren an die Pandemie erinnern werden. Hier beginnt die Rolle von Lornas Großmutter Mary Lamb, mit der sie in regelmäßigen Kontakt über Skype steht. Mary ist der Dreh- und Angelpunkt, sie hat mehr als 80 Jahre an Erinnerungen über eine ungemein ereignisreiche Epoche der Geschichte, voller Entwicklungen, die oft Fortschritt und manchmal Rückschritt sind.
Beispielsweise in der Art, wie sich die Nachrichten verbreiteten: vom Ende des Weltkriegs über die Zeitungen und dann versammelten sich die Menschen vor den Radioapparaten; die Krönung der Queen als Fernsehübertragung in Schwarz/Weiß und die Farben musste der Reporter beschreiben; als Prinzessin Diana verunglückte, war das Internet aus den Startlöchern gekommen und als fünfundsiebzig Jahre seit dem Ende des Weltkrieges vergangen waren, konnte sich niemand mehr eine Welt ohne Smartphones vorstellen.
Der Wandel im Verhältnis der Engländer zu Menschen aus anderen Ländern; Wandel in den gesellschaftlichen und moralischen Konventionen; Wandel im Verhältnis zu Europa; das Kommen und Gehen von Menschen, die einen ein Leben lang oder nur für einen Teil davon begleiten. Nur ein paar Ausschnitte dessen, worüber in „Bourneville“ zu lesen ist.
Jedes der „Sieben Ereignisse“, die das Rückgrat des Romanes bilden, markiert einen für England einschneidenden Moment: Als Churchill das Ende des Weltkrieges im Radio verkündete (1945); als Elisabeth zur Queen gekrönt wurde (1953); als bei der Fußball-WM in Wembley die ehemaligen Kriegsgegner Deutschland und England sportlich aufeinander trafen (1966); als Charles als Prince of Wales eingesetzt wurde (1969); als Diana und Charles heirateten (1981); Dianas Tod im Tunnel in Paris (1997); 75 Jahre Kriegsende und zugleich endgültiger Abschied Großbritanniens von der EU und Beginn der Corona-Pandemie (2020).
Jonathan Coe betrachtet in seinen Romanen die Gesellschaft und die Menschen, die sie formen (und umgekehrt: von ihr geformt werden). Sein Thema ist vorrangig England – diese Spezifizierung ist wichtig, denn über Schottland, Wales und Irland wäre eine andere Geschichte zu erzählen – wobei sich durch alles ein Umstand zieht: nämlich der, wie ähnlich und wie unterschiedlich zugleich die Engländer und wir Kontinentaleuropäer sind.
Dabei ist das britische Königshaus nur einer der offensichtlichen Aspekte dieser Unterschiedlichkeit, im Kleinen, in den Familien, bei den Angehörigen der älteren und der jüngeren Generationen findet sich noch viel mehr. Wie sehr aber die Monarchie das Leben und die Einstellung der Engländer prägt (egal, ob man Befürworter oder Gegner der Institution ist), das zeigt schon die Auswahl der „Sieben Ereignisse“. Alle, wenn sie schon nicht direkt mit dem Königshaus zusammenhängen, kommen doch nie ohne die Windsors aus.
Ein in Jonathan Coes Romanen wiederkehrendes Thema, der Brexit, findet ebenfalls Einzug in diesen Roman, war das doch eine der prägendsten Veränderungen im Gefüge Europas in den letzten Jahren. Am Beispiel der jahrzehntelangen bürokratischen Auseinandersetzung innerhalb der EU über englische Schokolade beschreibt Coe, wo sich Bruchlinien im Verhältnis öffneten, aus denen heraus die Populisten auf der Insel die Brexit-Kampagne befeuern konnten. Und so ist auch ein gewisser Boris Johnson, ein wie nachzulesen arroganter Typ, Teil der Erzählung dieses Buches.
Ein großer Bogen, der seinen Ausgang dort hat, wo mit der Pandemie etwas Ungeahntes über uns alle hereinbrach, das keinen Unterschied machte, in welchem Land der Erde man lebte. Die Erzählung spannt sich über mehr als fünfundsiebzig Jahre, im Gleichschritt mit den Lebensabschnitten von Mary Lamb, Lornes Großmutter. Mary, wie sie als damals Elfjährige im Jahr 1945 begann, die Welt um sich herum zu verstehen und wie sie im hohen Alter im Jahr 2020 noch immer auf der Höhe der Zeit lebt.
Zu der Vielfalt der Inhalte kommt, dass die sieben Abschnitte des Romanes sich auch in Form und Stil voneinander unterscheiden. Von der fortlaufenden Erzählung über eine Mischung aus Gegenwart und Rückblicken hin zu Erinnerungen wie in Form einer Tagebucheintragung.
„Bourneville“ ist ein Roman, der sich wie ein Thriller liest, ohne ein Thriller zu sein. Es beginnt schon mit dem Epilog, der ein paar Erinnerungen an den Beginn der Pandemie hervorruft und, obwohl wir wissen, wie es weiterging, dennoch zu einer fesselnden Obertüre für die Ereignisse der Jahre 2020 und 2021 wird. Bevor man dann mit dem letzten Kapitel wieder ins Jahr 2020 zurückkehrt, erfährt man, wie es ab dem Jahr 1945 den Mitgliedern der Familie (sehr hilfreich: Der Familienstammbaum am Anfang des Buches) und den später geborenen Generationen erging, wie sie geschichtliche Momente erlebten.
Vieles ist dabei, was ich aus eigener Erinnerung kenne (wenn auch aus der Ferne), das mit dem Lesen wieder lebendig wird und das vor allem einen Blick in die Seele der Menschen in den wechselnden Verhältnissen wirft.
Zusammengefasst: Der Roman hat mich von der ersten Zeile an gepackt, berührt und mich bis zum Ende nicht losgelassen. Einzig der Umstand, dass er nach rund 400 Seiten schon zu Ende ist, ist enttäuschend.