Buchbesprechung/Rezension:

Faktor, Jan: Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder Im Reich des heiligen Hodensack-Bimbams von Prag

verfasst am 29.07.2011 | 2 Kommentare

Autorin/Autor: Faktor, Jan
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[Gesamt: 2 Durchschnitt: 4]

Normalerweise bin ich so veranlagt, mich beinahe immer und überall dem Lesevergnügen hingeben zu können. Ob Zug, PKW oder Arztpraxis, völlig egal – meines Erachtens sollten alle Spitzenpolitiker, die während Dienstreisen nicht fähig sind ihre Akten zu lesen, schleunigst freiwillig zurücktreten. Das wäre ein Karl! Doch so einfach war es diesmal auch für mich nicht, denn beim Studium von „Georgs Sorgen um die Vergangenheit“ kam es, wahrscheinlich aufgrund des doch eher bizarr-tendenziösen Titels, mehrmals in meinem Umfeld zu Tuscheleien, wo ich mir fast sicher bin, die Worte „Schweinderl“ und „Ferkelei“ herausgehört zu haben.

Und um gleich mit der Tür ins Haus zu fallen mein Ratschlag: sollte ihr Herz der Prüderie gehören (dagegen gibt es nichts einzuwenden, die Welt muss keine Peep-Show sein!), würde ich die Finger und selbstverständlich auch die Augen aus diesem Buch lassen!

Aber all jene, die sich vom leicht infantilen Titel nicht abschrecken lassen, erwartet ein an die Grenze zur Genialität gehendes Lesevergnügen und sollten sie noch Erinnerungen an ihre eigene Pubertät und die Zeit ihrer Adoleszenz haben, ist dies äußerst nützlich, um nicht zu sagen sogar hilfreich bei der Bewältigung dieser kolossalen Familiengeschichte, jedoch keine unabdingbare Voraussetzung. Wenn ein Teil ihrer Vorfahren dann auch noch aus diesem wunderbaren Land nördlich von Österreich kommt, tja dann haben sie sowieso schon gewonnen.

„Du weißt doch, wie alle tschechischen Märchen beginnen: Es war einmal, war aber auch nicht.“ Der Ich-Erzähler Georg, Alter Ego von Jan Faktor, entführt uns in die Goldenen Stadt Prag, in die Zeit nach dem 2.Weltkrieg, speziell in die Phase der „goldenen“ Sechzigerjahren, die mit dem Einmarsch der Roten Armee 1968 allerdings jeglichen Glanz verloren haben.

Georg wächst in einer beinahe männerfreien Umgebung, umringt von einer überirdisch schönen Mutter, unzähligen Tanten, Großtanten, Großmüttern, Basen und einer Urtante mit dem interessanten Namen BOMBE in der Nähe des Hradschin auf. „Aus den KZs kamen nach dem Krieg nicht die Herren, sondern eher die Damen zurück.“

Beinahe deshalb, weil sein Onkel ONKEL (nein, ich habe mich nicht verschrieben!), ein manischer Sammler technischer Gerätschaften und Werkzeuge zwar ebenfalls in der Altbauwohnung lebt, sich aber in eine aus Kästen und Vorhängen erbaute Wagenburg zurückgezogen hat und an familiären Interaktionen so gut wie nicht teil nimmt.

An den Wochenenden muss Georg seinen Vater, einen Agenten der Spionageabwehr besuchen, der es mit der Hygiene und dem Alkohohl nicht allzu genau nimmt.

„Mein Vater und meine Mutter hatten sich, wie mir immer wieder erzählt wurde, vor dem Scheidungsrichter seinerzeit noch leidenschaftlich geküsst, wonach dieser meinte, so eine schöne Scheidung hätte er noch nie zelebrieren dürfen.“

Doch die größten Sorgen macht sich der junge Georg, der ein manischer Glotzer, ein sogenannter „optischer Penetrator“ ist, um seinen Penis. „Die ersten Sorgen um meinen Penis machte ich mir vor etwa fünfzig Jahren im Kindergarten – damals nur aus rein hygienischen Gründen.“ lautet der Auftaktsatz zu diesem epochalen Familien- und Sozialdrama. Viele weitere Gründe sollten im Lauf der Zeit noch nachfolgen.

Von Beginn an verströmt der Roman eine starke sexuelle Fixierung und dies vollkommen zu Recht, denn einerseits befindet sich Georg in der Pubertät und andererseits war die Sexualität einer der wenigen Bereiche, die die kommunistischen Machthaber nicht kontrollieren konnten, somit entsprechend beliebt. Ansonsten hat Georg aber eher abartige Neigungen, die sich in der Faszination für Müll, Schmutz und verschiedenste chemische Prozesse, bis auf die Ebene des Bakteriellen, manifestieren. Sollten sie einen empfindlichen Magen ihr eigen nennen, …nun, sie müssen es selbst wissen.

Aber um keinen falschen Eindruck aufkommen zu lassen, handelt es sich bei „Georgs Sorgen“ keineswegs um eine Fäkalorgie von charlotterochehaften Ausmaßen, obwohl es vor Feuchtgebieten in Prag und Umgebung nur so sprudelte. Jan Faktor versteht es vorzüglich mit weiser Komik und einem fast ungebändigten Sprachgefühl, die vielen Schwachstellen des kommunistischen System bloßzustellen – selbst die Politkader bis hinauf zum Staatspräsidenten stehen da plötzlich nackt da – Copyright by Walter Meischberger.

Wie nicht anders zu erwarten, findet Georg seine erste Geliebte im Schoße der Familie, in der Person von Dana, so eine Art Mutter Teresa der Tiere, einer mehr als doppelt so alten Verwandten unbestimmten Grades, die auf einem Bauernhof außerhalb von Prag lebt. Der erinnernde Erzähler begegnet der Sexualität wie allen anderen Begebenheiten in seiner Umgebung aus der Sicht des Ingenieurs, einer damals universal eingesetzten Berufsbezeichnung.

Jan Faktor besitzt die Gabe eine autobiografisch angereicherte Realität mit komödiantischer Lust zur Übertreibung und durch schonungslose Selbstpersiflage in eine der köstlichsten Grotesken der modernen europäischen Literatur zu verwandeln. Die einzelnen Kapitel sind nicht chronologisch angeordnet, sondern kreisen mäanderförmig um den Hauptschauplatz der Geschichte, die gemeinsame Wohnung der Familie Schornstein in Prag. Bereits der Familienname ist ein mächtiger Wink mit dem Zaunpfahl in Richtung der jüdischen Abstammung der Protagonisten.

Je weiter die Geschichte auf den 637 Seiten voranschreitet und dies ohne jegliche Längen auch tut, desto stärker nimmt der Autor die sexuelle Komponente zurück und der geschichtlich-politische Kontext tritt in den Vordergrund. „Unsere Scheißpartei hat die Leute um die Möglichkeit gebracht, unter normalen Umständen erwachsen zu werden. Darauf hätten sie aber ein Recht gehabt.“

Jan Faktors Prosa wird von unsentimentaler Wehmut getragen, die aus unbändiger Lebenslust und überbordendem Humorempfinden befeuert wird. Über weite Strecken wird man das Gefühl nicht los, einem modernem Friedrich Torberg zu lauschen. Immer wieder grüßt die gute alte Tante Jolesch zwischen den Zeilen hervor. Faktors Schelmen- und Entwicklungsroman ist ein weiteres sprachmächtiges, hochsatirisches Zeugnis eines Autors aus dem ehemaligen kommunistischen Ostblock.

Am liebsten hätte ich nach dem Ende gleich wieder von vorne zu lesen begonnen.




2 Kommentare

  • stefanie sagt:

    Die Spitze mit der Rücktrittsaufforderung und das das ein Karl wird ist vom Feinsten! (meint sogar der Busek) Wird aber leider nicht passieren. Nicht bei uns in Österreich.

    Jan Faktor ist einer der genialsten Schreiber unserer Zeit.
    Gruß, St.

  • Elke sagt:

    Jan Faktor hat wirklich ein geniales Werk geschaffen! Manchmal war mir das Buch ein wenig zu langatmig!

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