Buchbesprechung/Rezension:

Piglia, Ricardo: Ins Weiße zielen

verfasst am 23.10.2010 | einen Kommentar hinterlassen

Autorin/Autor: Piglia, Ricardo
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[Gesamt: 2 Durchschnitt: 5]

Argentinien. Argentina. Allein die Nennung dieses Namens erweckt so manche Erinnerung: An die legendäre Fußballschlacht von Cordoba. An General Peron und seine glamouröse Frau Evita. An den Krieg um die Falkland-Inseln, Tennisgaucho Guillermo Vilas und natürlich an den elegantesten aller Tänze, den Tango.

Er darf natürlich auch nicht vergessen werden, der geniale, aber vollkommen verrückte Fußballkünstler Diego Maradona. In diesem Jahr war dieser Riesenfleck von einem Land im Süden Amerikas zu Gast bei der Frankfurter Buchmesse, somit ein guter Grund einmal das literarische Schaffen der „Gauchos“ ein bisschen genauer unter die Lupe zu nehmen.

Und da stößt man unweigerlich, so wie wenn man westwärts geht und plötzlich auf die Anden prallt, auf den Literaturprofessor Ricardo Piglia, einen der führenden Intellektuellen und wichtigsten argentinischen Autoren der Gegenwart.

Piglia erzählt auf den ersten Blick eine Kriminalgeschichte in einem Provinzkaff in der Nähe der Hauptstadt zu Beginn des Jahres 1972. „Wie in vielen kleinen Orten der Provinz Buenos Aires gab es auch hier an einem Tag mehr Neuigkeiten als in irgendeiner großen Stadt in einer ganzen Woche, und der Unterschied zwischen den lokalen Informationen und den landesweiten Nachrichten aus dem Fernsehen war so gewaltig, dass die Dorfbewohner gelegentlich der Illusion erlagen, sie würden ein interessantes Leben führen.“

In diese ländliche Idylle platzt der dandyhafte Tony Duran, ein US-Amerikaner puertoricanischer Abstammung, von dem niemand genau weiß was er im Schilde führt.

Geschäftliche Gründe führten ihn in die Gegend, sagt er. Ist er gar den bildhübschen und blutjungen Zwillingen Belladona nachgereist, die vor kurzem aus den USA zurückgekehrt sind. „Die Belladona-Schwestern waren die Vorreiterinnen bei allem Interessanten, was im Dorf geschah, trugen Miniröcke, verzichteten auf Büstenhalter, rauchten Marihuana und nahmen die Pille.“

Pferderennen und Hahnenkämpfen schienen ebenfalls zu Tonys Steckenpferden zu zählen und nachdem er sich in der Pampa eingelebt hat, wird er auch schon in seinem Hotelzimmer ermordet aufgefunden. “Kreolischer Messerstich. Von unten nach oben, die Klinge tief zwischen die Rippen.“ Mehrere Zeugen haben den schwulen Hotelpagen Yosiho Dazai in der Nähe des Tatorts gesehen und somit ist der Fall eigentlich gelöst: Mord aus Leidenschaft, Fall aufgeklärt, Akten geschlossen und ab mit ihm vor Gericht.

Doch nicht so für Kommissar Croce, einen argentinischen Lino Ventura, einen Ermittler wie ihn wohl auch Wolf Haas nicht besser beschreiben könnte, sozusagen ein Brenner zum Quadrat. Allein seiner sagenumwobenen Intuition vertrauend, Wissenschaftlichkeit ablehnend gegenüberstehend, aber mit einem Gedächtnis ausgestattet, wo man nur Hut ab sagen kann. Jeden seiner Fälle hat er gelöst und die Welt dabei mehr als einmal in Erstaunen versetzt. Selbstredend genießt er in der Bevölkerung höchstes Ansehen.. Mit einem Wort (eigentlich sind’s drei) „eine lebende Legende“ und nebenbei auch noch ein hochsensibler Seismograf der gesellschaftlichen Entwicklungen.

Ein echt kauziger Typ, der sich hin und wieder auch in eine Nervenheilanstalt einweisen lässt, um in Ruhe nachdenken zu können. Und von dort terrorisiert er den ganzen Landstrich mit anonymen Briefen, um jemand aus der Reserve zu locken.

Schicht für Schicht legt Croce, unterstützt von Emilio Renzi, einen Journalisten aus Buenos Aires, das Beziehungsgeflecht der Akteure frei und stößt schon bald auf eine heiße Spur. Alles konzentriert sich in und um die Familie Belladona, die die Geschicke der gesamten Gegend zu bestimmen scheint. Waren es wirklich nur die körperlichen Reize der Zwillingsschwestern, die Duran in die Pampa gelockt haben? Was verband deren Vater und Bruder, die Besitzer einer kafkaesk anmutenden Automobilzulieferfabrik mit dem Opfer?

Und vor allem, was führt der aalglatte Staatsanwalt Cueto im Schilde, Croces Intimfeind, der die seine Ermittlungsergebnisse beharrlich ignoriert?

Durch trickreiche Wechsel der Erzählperspektive hält Piglia den Spannungsbogen aufs Äußerste gespannt und zeigt, dass nichts so ist, wie es auf den ersten Blick scheint.

Notizen und Erzählungen über die dunkle Familiengeschichte von Sofia Belladona, einer der Zwillingsschwestern, montiert der Autor geschickt in den Text und schafft damit Authentizität. „Die Gedenktafeln von Bruno Belladona, Lucio und jetzt auch von Luca spiegelten die Geschichte einer Familie wider, in der nur die männlichen Familienmitglieder zu sterben schienen.“

Die zunehmenden Spannungen um die Rückkehr General Perons, autoritäre Herrschaft, das Abgleiten in bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen und schließlich 1976 die offene Militärdiktatur bilden den komplexen historischen Hintergrund dieses Romans.

Aber lassen wir Kommissar Croce zum Schluss selbst sprechen: “Du liest zu viele Krimis, Junge. Wenn du wüsstest, wie die Dinge wirklich laufen … Es stimmt nicht, dass man die Ordnung wiederherstellen kann, es stimmt nicht, dass die Verbrechen jedes Mal aufgeklärt werden … Es gibt keine Logik. Wir strengen uns an, Gründe zu erforschen, Auswirkungen zu erklären, aber das vollständige Netz aus Intrigen werden wir nie verstehen …“

Ricardo Piglia gelingt mit „Ins Weiße zielen“ nicht mehr und nicht weniger als die Quadratur des Kreises: das Buch liest sich wie ein Krimi, ist aber keiner.

Lange Rede, kurzer Sinn: schlicht und einfach ein Werk der Weltliteratur aus der Feder eines ganz großen Meisters!




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